Die Frau, die den Brexit begraben will
Die Chefin der britischen Liberaldemokraten, Jo Swinson, will im Fall eines Wahlsiegs den Brexit absagen. Das kommt bei proeuropäischen Wählern gut an.

Hareen Potu hat gegen seine neue Chefin und ihre neuen Ideen gestimmt. Er findet den Plan, den Brexit umgehend und komplett abzusagen, falls seine Partei die nächsten Wahlen gewinnen sollte, gelinde gesagt: mutig. Und offen gesagt: falsch.
Jo Swinson, die energiegeladene Vorsitzende der britischen Liberaldemokraten, hatte das radikale Motto auf dem Parteitag in Bournemouth am Sonntag zur Abstimmung gestellt – und nach einer vehementen Debatte eine grosse Mehrheit dafür bekommen. Wann immer also demnächst Wahlen stattfinden im Vereinigten Königreich, werden die Lib Dems mit dem Slogan in den Kampf ziehen: Stop Brexit.
Das Mittel ihrer Wahl: Revoke, also zurückziehen. Bedeutet: Swinson würde, sollte sie Premierministerin werden, am ersten Tag nach ihrer Amtseinführung in Brüssel Bescheid sagen, dass London Artikel 50 nicht weiterverfolgen will. Artikel 50 – das ist jener Paragraf, mit dem Grossbritannien den Brexit-Prozess im Frühjahr 2017 in Gang gesetzt hatte.
Ein zweites Referendum?
Nun muss man wissen, und das weiss auch der liberale Abgeordnete Hareen Potu, dass die Wahrscheinlichkeit äusserst gering ist, dass Swinson demnächst Brexit-Fan Boris Johnson ablösen könnte. Dagegen sprechen das britische Mehrheitswahlrecht und die Tatsache, dass die Lib Dems derzeit in den Umfragen bei 20 Prozent liegen. Aber Potu hat grundsätzliche Zweifel: Was, fragt der 30-jährige indischstämmige Delegierte im Gedränge vor einem Konferenzraum, wo Delegierte und Experten gerade die ewige Frage diskutiert hatten, wie es weitergeht mit dem Brexit, was ist dann mit dem Referendum von 2016? Damals stimmten knapp 52 Prozent für den Austritt. Braucht man nicht ein zweites Referendum, um das erste zu entkräften? Würde das demokratische Mandat, das aus einem Wahlsieg erwächst, diese Volksabstimmung einfach ersetzen?
Weil die Aufbruchstimmung in Bournemouth immens ist, weil die Sonne scheint, weil niemand die gute Laune, die guten Umfragedaten und den Neuanfang nach einer langen politischen Durststrecke stören will, beteuert Potu, dass er natürlich trotzdem für die Lib-Dem-Lösung Wahlkampf machen wird. «Wir haben jetzt eine klare Botschaft. Klarer als jene von Labour, die sich nicht entscheiden können. Die Leute wollen, dass der Brexit weggeht. Wir versprechen ihnen, dass er weggeht.»
Sie hat Power und Charisma
Aber nicht er allein hat Zweifel. Swinson muss sich während des Parteitags im südenglischen Küstenort immer wieder fragen lassen, ob der neue Kurs nicht undemokratisch sei. Sie zeigt sich unbeeindruckt und selbstbewusst: Ein Wahlsieg sei ein Wählerauftrag, und eine eindeutige Positionierung sei die Basis dafür. Aber natürlich, betont sie eilig, werde ihre Partei gemeinsam mit der restlichen Opposition weiter für ein zweites Referendum kämpfen, wenn die Lib Dems nicht stärkste Kraft würden.
Traditionell halten Parteichefs auf britischen Parteitagen ihre grosse Rede zum Schluss; und so legt Swinson, die schon die Revoke-Debatte vom Sonntag angeführt hatte, am Dienstag noch einmal nach: Brexit – das sei so, als setze man sein eigenes Haus in Brand. Premier Boris Johnson sei ein Nationalist und beschädige die Demokratie, Labour-Chef Jeremy Corbyn sei radikal und regierungsunfähig. Johnsons No-Deal-Kurs mache sie krank. Die 39-Jährige ist eine gute Rednerin, sie hat Power und Charisma, und die Erleichterung nach dem Rücktritt ihres 71-jährigen Vorgängers Vince Cable ist in Bournemouth mit Händen zu greifen. Aber das eigentliche Aphrodisiakum der Partei, die noch vor wenigen Jahren bei unter 10 Prozent gedümpelt war, ist der Brexit. Die Lib Dems haben endlich ein herausragendes Thema, sie waren und sind Europäer. Und je länger sich die Krise im Königreich hinschleppt, umso grösser wird ihre Anziehungskraft.
Der Einfluss ist gewachsen
Sechs Abgeordnete von anderen Parteien waren zuletzt übergelaufen, das ist ein Drittel der derzeitigen liberalen Unterhaus-Abgeordneten. Philip Lee, für alle sichtbar, hatte das sogar während einer Parlamentsdebatte getan; der letzte Neuzugang war, kurz vor dem Parteitag, der Tory-Abgeordnete Sam Gyimah, gewesen, der den «Populismus» von Boris Johnson nicht mehr ertragen mochte. Ebenso wie bei der «Stop Brexit»-Entscheidung gibt es aber auch hier einiges Gegrummel im Hintergrund: Nicht alle Lib Dems, gesellschaftspolitisch traditionell linksliberal, finden es gut, dass sie nun Kollegen haben, die nicht auf einem liberalen Ticket ins Unterhaus gekommen sind und beispielsweise gegen die Homo-Ehe gestimmt haben.
Aber der Einfluss der Partei ist sichtlich gewachsen, und das finden dann wieder alle gut. Der prominente Überläufer Chuka Umunna, Ex-Labour, jetzt Schatten-Aussenminister der Lib Dems, bedankt sich unter dem Jubel seiner neuen Parteifreunde für die warme Aufnahme, bevor er das Land vor Johnson und Corbyn warnt: Die pluralistischen Kräfte der liberalen Demokratie würden «weltweit bedroht von einem neuen Autoritarismus». Und in Grossbritannien stünden zwei Männer an der Spitze von Regierung und Opposition, die «keinen moralischen Kompass» hätten.
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