Die Frau, die zu viel wusste
Krimi der Woche: Tattoos, Saufereien und Frauen, das war das Leben von Amy Falconetti. Dann beobachtete sie einen Mord.

Der erste Satz
Als Mrs. Epifanio die Tür öffnet, weiss Amy sofort, dass irgendwas nicht stimmt.
Das Buch
Amy Falconetti ist Mitte 30, wirkt eher jünger. Ihr wildes Leben hat sie hinter sich gelassen. «Inzwischen blitzen Bilder aus ihrem früheren Leben – eigentlich waren es ja mehrere – nur noch manchmal auf, verschwommene Erinnerungen an Bars, Musik, Tattoos, Saufereien, Frauen.» Die ehemalige Barkeeperin ist für Alessandra nach Gravesend gezogen, ein Viertel in Brooklyn, das alles andere als trendy ist und in dem viele italienischstämmige Bewohner leben.
Obwohl Alessandra inzwischen nach Hollywood gezogen ist, um als Schauspielerin zu arbeiten, ist Amy im Quartier geblieben. Hier hat sie zurück zur Kirche gefunden und engagiert sich in der Freiwilligenarbeit. So bringt sie alten Menschen, die nicht mehr zur Kirche gehen können, die Kommunion nach Hause. Geld verdient sie mit Gelegenheitsjobs, etwa an der Kasse in einem kleinen Supermarkt.
Das Viertel hat uns William Boyle schon in seinem Debütroman «Gravesend» eindrücklich nahegebracht. Der Autor, der heute im Süden der USA lebt, ist in dieser Gegend aufgewachsen, kennt da jede Hausecke, und er versteht es, in knappen Beschreibungen die Stimmung spürbar zu machen. In diesem brillanten Noir-Stück hatte auch Amy einen kleinen Auftritt. Als Barkeeperin, die Alessandra aus Gravesend kennen lernt. Jetzt ist Amy die Titelfigur im Roman «Einsame Zeugin».
Seit sie Alessandra getroffen hatte, sind ein paar Jahre vergangen. Amy führt ein einsames Leben irgendwo zwischen Desillusion und Melancholie, hängt den Erinnerungen an Alessandra nach und sieht keine Perspektiven für die Zukunft. Doch dann wird sie Zeugin einer tödlichen Messerstecherei, und ihr Leben wird «von einfach chaotisch zu viel chaotischer». Sie behält ihre Beobachtung für sich und stellt dem Mörder selber nach, ohne zu wissen, weshalb.
In kürzester Zeit beginnen sich die Ereignisse zu überstürzen. Dazu treten neue und alte Bekannte in Amys Leben, darunter ihr Vater und Alessandra, die aus Los Angeles für ein Vorsprechen nach New York kommt. Amy will schliesslich nur noch «weg von dem Leben hier, wie sie es kennt, vor allem weg von den rätselhaften, schrecklichen Ereignissen der letzten sechsunddreissig Stunden». Nach und nach steigert Boyle das Tempo und lässt schliesslich einen Grossteil des Personals des Romans zu einem furiosen Finale zusammenkommen.
Mit «Einsame Zeugin» bestätigt William Boyle seine Meisterschaft im Erzählen nur scheinbar kleiner, ziemlich düsterer Geschichten. Seine Figuren sind liebenswerte Loser, die er nie voyeuristisch oder gar denunzierend begleitet, sondern immer verständnisvoll und empathisch.
Die Musik zum Roman
Autor William Boyle ist ein passionierter Musikliebhaber. Wie schon zu «Gravesend» hat er auch für den Nachfolgeroman «Einsame Zeugin» eine kommentierte Playlist mit 18 Tracks von Künstlern wie Sharon Van Etten, Cat Power, Nina Simone, Nick Cave and the Bad Seeds, Ramones, Lucinda Williams und L7 zusammengestellt, die quasi den Soundtrack zur Geschichte bildet.
Die Wertung
Der Autor
William Boyle, geboren 1978 im New Yorker Stadtteil Brooklyn, wo er auch aufgewachsen ist, studierte an der State University of New York in New Paltz. Seit 2012 lehrt er kreatives Schreiben an der University of Mississippi in Oxford, Mississippi. 2013 erschien sein erster Roman «Gravesend» (Deutsch 2018 unter dem Originaltitel). Es folgte der Storyband «Death Don't Have No Mercy».
Sein zweiter Roman «Everything Is Broken» erschien 2017 unter dem Titel «Tout est brisé» nur in Frankreich. Dort hatte Boyle schon mit seinem Debüt Furore gemacht: «Gravesend» erschien 2016 in der renommierten, von Frankreichs Krimipapst François Guérif 1986 gegründeten Reihe Rivages/Noir als Band Nummer 1000. «The Lonely Witness» (2018; Deutsch: «Einsame Zeugin», 2019) ist Boyles dritter Roman. Im März 2019 ist in den USA sein vierter Roman «A Friend is a Gift You Give Yourself» erschienen, und für März 2020 ist «City of Margins» angekündigt.
Boyle lebte in den New Yorker Stadtteilen Brooklyn und Bronx, im Hudson Valley und in Austin, Texas, bevor er nach Oxford, Mississippi, zog, wo er mit seiner Frau und zwei Kindern lebt. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität ist der Musikliebhaber zeitweise auch im landesweit bekannten Plattenladen The End of All Music in Oxford tätig.

William Boyle: Einsame Zeugin (Original: The Lonely Witness, Pegasus Books, New York 2018). Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. Polar, Stuttgart 2019. 299 S., ca. 30 Fr.
Alle weiteren Besprechungen finden Sie in der Collection «Krimi der Woche».
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