Politik in Bild und TonDie Generation Youtube bringt die Grundrechte unters Volk
Der Fotograf Dominic Büttner verfilmt die Bundesverfassung und lässt dafür alle 195 Artikel vorlesen – von Prominenten und weniger Prominenten.

«Die Bundesverfassung von 1848», so steht es im «Historischen Lexikon» der Schweiz, «war die erste Verfassung der Eidgenossenschaft, die sich das Schweizer Volk selbst gab.» Es ist unser aller Grundgesetz: Von allen für alle.
Im Alltag allerdings scheint die Bundesverfassung keine Rolle zu spielen. Oder höchstens dann, wenn tatsächliche oder vermeintliche «Freunde der Verfassung» einzelne Verfassungsartikel für ihre Zwecke propagandistisch nutzen.
Seit Dominic Büttner sich in das schmale rote Büchlein vertieft hat, sieht er das anders. «Da steht alles drin, was die Schweiz ausmacht», sagt der Fotograf und Filmer. Und: «Ich möchte, dass wir uns als Gesellschaft auf das konzentrieren, was uns eint.» Daher zieht er durch die Schweiz und lässt von zufällig ausgewählten und gezielt kontaktierten Personen Artikel aus der Bundesverfassung vorlesen.
Dabei traf er etwa auf eine Deutsche, die seit 20 Jahren hier lebt. Sie las nach der Aufnahme weiter im Verfassungstext und sagte: «Das berührt mich – ich möchte Teil davon sein und politisch eine Stimme haben.» Überhaupt überraschte das Echo den Fotografen: Wildfremde Menschen sagten spontan zu, diskutierten die vorgelesenen Artikel, kamen mit anderen ins Gespräch, die die Dreharbeiten verfolgten.
Dominic Büttner investiert jede freie Minute in sein Projekt Constitutio, um der Bevölkerung die Verfassung in allen vier Landessprachen vorgelesen und gefilmt zur Verfügung zu stellen. «Ich möchte die Bundesverfassung erlebbar machen, ihr eine Bühne geben: Erstmals wird die Verfassung nicht von der Verwaltung unters Volk gebracht, sondern vom Volk selbst.»
Für alle seh- und hörbar
Die ganze Verfassung, vorgetragen von Prominenten und weniger Prominenten, wird auf Youtube abrufbar und in einer Filmfassung erlebbar sein: Das Grundgesetz und die Grundrechte für die Social-Media- und Youtube-Generation.
Da ist der Politologe Michael Hermann, der die Artikel zum Initiativrecht vorträgt. Die Berner Vokalperformerin Franziska Baumann beendet ihre Lesung mit einem Jodel. Bundesrätin Karin Keller-Sutter liest gewohnt professionell ab Teleprompter. Künstlerin Pipilotti Rist ist ebenso mit von der Partie wie die Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr, ein Divisionär, ein «Tagesschau»-Moderator oder ein blinder Bibliothekar.
Die bereits gefilmten Sequenzen bergen Überraschungen: Die Frau mit Kopftuch, die den Artikel 10a über das Verhüllungsverbot liest. Oder den jungen Mann mit Migrationshintergrund, der von sich aus den Artikel 25 über den Schutz vor Ausweisung, Auslieferung und Ausschaffung vorträgt.
Auftrittskompetenz und Staatskunde
Für Büttners «gesellschaftspolitische Performance» sind aber Menschen wie Mia Stöckli zentral. Auf die 18-jährige Gebäudetechnikplanerin im zweiten Lehrjahr ist der Fotograf in der Baugewerblichen Berufsschule in Zürich gestossen. Die Lehrerin und Autorin Maja Peter integriert die Aufnahmen in die Schulstunden. Dafür setzt sie ihren Schülerinnen und Schülern zwei Ziele: Auftrittskompetenz und Staatskunde.
Mia Stöckli liest Artikel 64a zur Weiterbildung. Sie hat sich, wie sie sagt, echt gefreut auf die Beschäftigung mit der Verfassung: «Das ist doch unsere wichtigste Grundlage – auch für die extrem gute Bildung, die wir in der Schweiz haben.»
Gjergi Prenaj (17) und Drinar Thaqi (16), ebenfalls angehende Gebäudetechnikplaner, unterhalten sich vor dem Dreh auf Albanisch. Sie nehmen interessiert den Artikel zur Kenntnis, der ihnen garantiert, dass sie nicht aufgrund ihrer Sprache diskriminiert werden dürfen. «Davon haben wir vorher noch nie gehört.»
Aber auch mit diesem Artikel im Kopf finden sie es voll okay, dass ihre Muttersprache im Klassenzimmer normalerweise nicht erwünscht ist. «Wir müssen uns ja alle verstehen können, sonst funktioniert das nicht», sagt Gjergi, und Drinar nickt.
175 Jahre Bundesverfassung
Die 1848 beschlossene, 1999 generalrevidierte Bundesverfassung wird im kommenden Jahr 175 Jahre alt. Dazu plant der Bund Ausstellungen, wissenschaftliche Debatten und, natürlich, mehrere Feiern. Ob im Programm der Feierlichkeiten Platz ist für die von der Bevölkerung vorgelesene Verfassung, ist noch offen. Klar ist schon, dass der Bund das Projekt finanziell nicht unterstützt.
Andere Gönner zu finden, ist schwierig. Da ist etwa die Begründung eines Grossverteilers, sein Geschäft habe «nichts mit der Verfassung zu tun». Und natürlich das ewige Dilemma subventionssuchender Kulturschaffender: A zahlt nur, wenn B zahlt, aber B zahlt erst dann, wenn A zahlt. Für ein Filmprojekt, das in keine Subventionsschublade passt, sind die Hürden noch höher als für Tanz oder Theater.

Mit an Bord ist immerhin die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft. Dazu kommen weitere Institutionen. «Der grosse Rest der Kosten wird schlimmstenfalls meine unbezahlte Eigenleistung bleiben», sagt Büttner. Bevor er begeistert davon zu erzählen beginnt, dass er gern eine Rapperin hätte, die einen Artikel rappt.
Die Redaktion Tamedia unterstützt Projekt Constitutio durch Dienstleistungen bei der Umsetzung für Youtube.
Mehr zum Projekt: Constitutio.ch
Die Bundesverfassung kann beim Bund kostenlos bestellt werden: Shop Bundespublikationen
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