
Wer auf einem sozialdemokratischen Kongress eine Rede halten muss, kann mit diesen Parolen eigentlich nichts falsch machen: für faire Löhne! Für Gleichberechtigung! Gegen Rassismus! Und: gegen Nationalismus! Denn was ist Nationalismus anderes als ein aggressiver, ausgrenzender Kult um Fahne, Volk und Schlagbaum? Eben.
Entsprechend sicher fühlte sich der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, als er vor gut zwei Wochen in Perth bei der glücklosen Labour-Partei Schottlands auftrat. Er fing schwungvoll an, mit Trump in Amerika und dem Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa – nun liege es an der Linken, sagte Khan, diesen Trend zu stoppen. Allgemeines Nicken, keine Frage: Auf uns kommt es an. Dann aber sprach der Gast Unerhörtes: «Die, die uns nach Herkunft, Hautfarbe oder Religion trennen wollen, sind nicht anders als die, die uns in Engländer und Schotten aufteilen wollen.» Der schottische Himmel verfinsterte sich. Was hat er da gesagt? Schottische Nationalisten sind Rassisten?
Später versicherte Khan, er habe das so nicht gemeint, aber zu spät. Schottlands Leitartikler, Leserbriefschreiber und Twitteraten ziehen seither über den im Norden eigentlich beliebten Bürgermeister her. «Daneben», «ahnungslos» und «schlecht beraten» sei er, wenn er nicht erkenne, dass die Schotten alles anders machten, auch den Nationalismus; um Blut und Boden gehe es ihnen eben gerade nicht. Schottland sei das einzige Land Europas, das einen wirklich inklusiven Nationalismus betreibe.
Keine Sorgen um die Identität
Wie so etwas aussehen soll, demonstrierte diese Woche die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon. In ihrer Edinburgher Residenz erklärte die ehemalige Rechtsanwältin in einer völlig unmartialischen Rede und vor einem gutbürgerlichen Cheminée stehend, sie bereite eine weitere Abstimmung über Schottlands Unabhängigkeit vor. Nicht wegen Überfremdung und nicht aus Hass auf England, sondern weil die britische Regierung von Theresa May einfach nicht mit sich reden lasse, Schottland gegen seinen Willen aus der EU und aus dem Binnenmarkt führe, ja ganz Britannien bedenklich umbaue: «Es geht um die Frage, was für ein Land wir sein wollen, wie offen, gastfreundlich, vielfältig und fair wir in Zukunft sein werden.»
Gastfreundlich und vielfältig? Europas Nationalisten klingen sonst eher anders. Gemäss Lehrbuch erwacht der Nationalismus oft dann, wenn sich eine dominante Volksgruppe durch Neuankömmlinge bedroht fühlt. Das ist die Schubkraft hinter der niederländischen Freiheitspartei, dem Front National in Frankreich, der Folkeparti Dänemarks – letztlich auch hinter der Schweizerischen Volkspartei, die das Thema Einwanderung und Identität seit Jahren bewirtschaftet. Auch Donald Trumps Wahlsieg in den USA muss zumindest teilweise so gedeutet werden: als ein weisses Rückzugsgefecht in einer demografisch bunter werdenden Nation.
Im Programm der regierenden Scottish National Party (SNP) aber spielt der Heimatschutz schlicht keine Rolle. Ausgerechnet Schottland, das mit seiner Kilt- und Dudelsack-Folklore weltweit als ein Hort besonders tief reichender Traditionen angesehen wird, macht sich keinerlei Sorgen um seine Identität. Vielleicht zahlen sich jetzt die mehr als 300 Jahre im Verbund mit England aus: Schottland hat gelernt, nicht zu verschwinden. Deshalb wurden die Männerröcke der Highland-Sumpfbauern im 19. Jahrhundert zur Nationaltracht erklärt: um erkennbar anders zu bleiben, nicht in England aufzugehen. Es hat funktioniert.
Für die Heimat, gegen niemanden
Heute pflegt Schottland einen «bürgerlichen» Nationalismus. Während Ethno-Nationalisten ihr Volk beschützen oder befreien möchten, geht es dem bürgerlichen Nationalismus nur um das Land; es soll selber über sich bestimmen können, aber wer darin wohnt, ist eigentlich egal. Anders gesagt: Bürgerlicher Nationalismus ist politisch, aber niemals kulturell. Für die Heimat, gegen niemanden.
Der britische Patriotismus ist in den Monaten seit dem Brexit-Beschluss xenophober und hässlicher geworden. Theresa Mays Regierung teilt illegalen Einwanderern mit Plakatkampagnen mit: «Go Home or Face Arrest» (Geh heim oder ins Gefängnis), und auch legal niedergelassene Ausländer erhalten plötzlich Briefe vom Staat, die sie zur Ausreise anhalten. Schottlands Nationalisten betonen derweil immer entschiedener, dass sie eingemeinden, nicht ausschliessen wollen. «Die Ukip will, dass weniger Menschen Engländer sind. Die SNP, dass mehr Menschen Schotten werden», notiert der schottische Journalist Stephen Daisley, eigentlich kein Fan der Nationalisten.
Viele Engländer verstehen das nicht. Der Ukip-Führer Nigel Farage kam sich originell vor, als er sagte, eine schottische Unabhängigkeit sei sinnlos, da das Land ja dann von Brüssel beherrscht werde, also wieder nicht frei sein werde. Der Ex-Nationalistenführer Alex Salmond lachte ihn aus im Fernsehen: «Nigel Farage weiss nichts über Schottland.»
Denn der Feind des schottischen Nationalisten ist nicht der Ausländer, nicht die EU und nicht die Globalisierung, sondern einzig die britische Regierung: «Westmonster». Die konservative Führung in London ignoriert, dass Schottland eine andere Politik will. Keine Austerität, sondern Gratisbusse für Pensionäre. Keine Atom-U-Boote, sondern staatliche Top-Universitäten. Und eben: keine Abkehr von Europa, sondern Internationalität. 62 Prozent der Schotten haben gegen den Brexit gestimmt. Danach hat Nicola Sturgeon hinter den Kulissen für eine Sonderregelung gekämpft, einen Brexit Light für Schottland – vergeblich. Dass sie nun die Abstimmung lanciert, ist Protest. Theresa May hat gestern erwartbar rüde reagiert: Sie werde mit Sturgeon nicht diskutieren. Dieser Konflikt wird heiss.
Ethnischer oder politischer Nationalismus – das ist kein Detail. Es geht um die Frage, wer das Volk sein kann. In Schottland gilt amtlich: Möglichst jeder, der will. Auch EU-Bürger mit Wohnsitz in Schottland dürfen deshalb in schottischen Belangen wählen und stimmen, das galt auch 2014 bei der letzten Unabhängigkeitsabstimmung. Schotten im Ausland hingegen (wie Sir Sean Connery auf den Bahamas) haben keine Stimme. Das bedeutet: Boden vor Blut. Man kann ein MacDonald in 14. Generation sein und den ganzen Tag im Kilt herumlaufen: Ein Heinrich Huber aus Württemberg zählt gleich viel, wenn er in Schottland Steuern bezahlt.
Ein solches Volksverständnis begeistert Linke und Intellektuelle, die sich sonst gern fernhalten von aller patriotischer Fahnenschwingerei. Die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy schrieb ein Loblied auf den «neu definierten» Nationalismus ihrer Heimat, und der englische Liedermacher und Sozialist Billy Bragg erklärte seinen Landsleuten in einem Essay, dass Solidarität mit Schottlands Sezessionisten kein Verrat an der Internationalen sei, schliesslich gehe es hier um den guten alten «Kampf gegen die Mächtigen». Ausserdem: Irgendjemand muss den Tories ja noch die Stirn bieten. Das Chaos bei Labour macht die Abgeordneten der Scottish National Party immer mehr zur wahren Oppositionspartei – auch in Westminster.
Kilt und Turban
Ebenfalls angetan vom schottischen Nationalismus sind die Einwanderer und ihre Nachfahren. Der bekannte TV-Koch Hardeep Singh Kholi, ein Sikh aus Glasgow, tritt gerne in Kilt und Turban auf – und ist ein Verfechter der Unabhängigkeit. Zu den prominentesten Abgeordneten der SNP gehört Verkehrsminister Humza Yousaf: Seine Mutter ist aus Kenia, der Vater aus Pakistan, und geboren ist er 1985 in Schottland.
Diese integrative Kraft unterscheidet Schottlands Nationalisten von den meisten übrigen Sezessionisten in Europa und Nordamerika. In Québec fiel es den Nationalisten schwer, Einwanderer der jüngsten Zeit für den Alleingang zu gewinnen; 90 Prozent von ihnen stimmten 1995 Nein zum Austritt aus Kanada, was die frankofonen Nationalisten unschön über das Fehlen der «ethnischen Stimmen» murren liess. Und in Katalonien, wo Sprache und Kultur so sehr im Zentrum des Nationalismus stehen, gibt es neben allen weltoffenen immer wieder auch Stimmen, die vor einer Verwässerung der Nation durch Zuwanderer warnen; der frühere Parlamentspräsident Heribert Barrera sprach einmal vom «Verschwinden» der Katalanen.
Schottland hat solche Sorgen nicht. Es ist ein weitgehend englischsprachiges Land – und selber Teil der angelsächsischen Massenkultur. Als katalanische Fussballfans letztes Jahr keine Fahnen ins Stadion bringen durften, besorgten sie sich schottische. Die kennt jeder, die versteht jeder: klein, stolz, wehrhaft. Schottland funktioniert global.
Diskriminierte Engländer?
Natürlich gefallen sich viele Schotten etwas zu sehr als die besseren Nationalisten. Auch in Schottland gibt es Rassismus, und längst nicht alle SNP-Wähler teilen die Ansicht ihrer Parteielite, wonach die schottische Identität gar nichts mit Abstammung oder Hautfarbe zu tun hat. Dass das gerühmte Ausländerwahlrecht für EU-Zuwanderer, aber nicht für Asiaten und Afrikaner gilt, sagt auch etwas aus. Und dass man mit einem englischen Akzent in manchen schottischen Pubs Ärger bekommt, ist ebenfalls wahr – selbst wenn die SNP betont, antienglische Sprüche hätten in Schottland keinen Platz.
Kritiker spotten überdies, Schottland sei nur deshalb so weltoffen, weil es kaum Einwanderer zu verdauen habe. Und wirklich: 2015 waren nur 7,4 Prozent der 5,3 Millionen Einwohner ausserhalb des Vereinigten Königreichs geboren – in ganz Grossbritannien waren es 13,3 Prozent. Doch der Einwand ist etwas konstruiert. 7,4 Prozent sind nicht nichts. Schottland ist nicht Spitzbergen, abgeschnitten vom Rest der Welt, sondern Schottland hat mehr als ein Drittel aller syrischen Flüchtlinge in Grossbritannien aufgenommen. Edinburgh und Glasgow gehören zu den grossen Städten des Königreichs und sind nicht weniger bunt als andere. Der schottische Wille zur Diversität ist nicht ungetestet. Mehrere Studien legen nahe, dass dunkelhäutige Menschen sich in Schottland im Durchschnitt etwas weniger oft diskriminiert fühlen als in England. Irgendetwas läuft hier besser.
Die Gefahr des Erfolgs
Die grösste Gefahr des schottischen Nationalismus ist wahrscheinlich sein Erfolg. Die SNP stellt 54 der 59 schottischen Abgeordneten im britischen und die mit Abstand stärkste Kraft im schottischen Parlament. Die Unterstützung für Sturgeon ist enorm. Schottland wird zunehmend ein Einparteienstaat.
Wer so sicher an der Macht ist, wird ungeduldig mit Gegenmeinungen. John McKee, ein Lobbyist gegen die Unabhängigkeit, spricht von einer neuen Intoleranz der Nationalisten, die jeden Widerspruch als Verrat deute. Die SNP-Frau Joan McAlpine nannte Gegner der Unabhängigkeit einmal «antischottisch» – eine verheerende Formulierung, nach der nur echter Schotte sein kann, wer auch für die Partei ist. Die Dominanz der Nationalisten ist heute ihre grösste Schwäche.
Für viele Wähler Schottlands aber ist der Nationalismus sowieso etwas Symbolisches. Eher als um echte Eigenstaatlichkeiten geht es ihnen um Protest und Aufmerksamkeit: Schau her, Westmonster, uns gibt es auch noch, wir sind anders. Wenn es plötzlich ernst wird, verlässt viele SNP-Wähler der Mut: Beim Referendum 2014 scheiterte die Unabhängigkeit, weil zu viele Schotten eben doch an Britannien hängen. Und weil London sie so vehement vor den Konsequenzen des Alleingangs warnte: Das ist wirtschaftlicher Suizid, hiess es, alleine kann man nie bestehen. Und: Ihr verliert den Zugang zur EU!
Alles Warnungen, welche die Brexit-Befürworter Englands selber in den Wind geschlagen haben. Heute tönt es im Süden jeden Tag: Alleinsein macht stark! Von den alten Sprüchen werden sich die Schotten nicht noch einmal überzeugen lassen.
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Die guten Nationalisten
Schottlands Patrioten wehren sich gegen Vergleiche mit den übrigen nationalen Bewegungen Europas. Zu Recht?