Die Illusion vom selbstbestimmten Sterben
Patientenverfügungen spielen im Sterbeprozess meist keine Rolle. Oft seien die Wünsche widersprüchlich oder nicht realisierbar, sagt eine Nationalfonds-Studie.

Der Schweizerische Nationalfonds hat in den letzten fünf Jahren mit 33 Forschungsprojekten das Sterben in der Schweiz untersucht. Die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms (NFP 67) mit dem Titel «Lebensende» wurden gestern veröffentlicht.
Die meisten Menschen verbringen ihre letzte Lebensphase in Spitälern und Pflegeheimen. Dem Tod gehen meistens medizinische und pflegerische Entscheide voraus. Bei 70 Prozent der untersuchten nicht plötzlichen Todesfälle wurde entweder auf eine weitere Behandlung verzichtet, oder Schmerzen und Krankheitssymptome wurden mit Mitteln gelindert, die das Leben verkürzen können.
«Lebensfremde» Idealvorstellung
In der Schweiz werden auffallend viele Patienten in der letzten Lebensphase sediert und erleben damit das Sterben nicht bewusst. Bei lediglich drei Prozent der untersuchten Sterbefälle seien Entscheidungen zur Lebensbeendigung getroffen worden wie etwa Sterbehilfe.
Das Schweizer Gesetz geht vom autonomen Patienten aus, der seine Behandlung bis zuletzt bestimmt und für den Fall der Urteilsunfähigkeit mit einer Patientenverfügung vorsorgt. Die Realität sieht anders aus. Die Selbstbestimmung sei am Lebensende oft nur eingeschränkt möglich, sagte Rechtsprofessorin Regina Aebi-Müller.
Patientenverfügungen spielten praktisch keine Rolle. Auch die rechtliche Vertretung durch Angehörige komme kaum zur Anwendung. Die gesetzliche Idealvorstellung des souveränen Patienten, der autonom über sein Sterben entscheide, hält Aebi-Müller für «lebensfremd».
Was heisst «keine Schläuche»?
Die Forschenden haben in Interviews mit Ärzten und dem Pflegepersonal untersucht, wie Entscheide über einen Behandlungsabbruch oder -verzicht zustande kommen. Die Patientenverfügungen seien häufig nicht rechtzeitig verfügbar. Oft sei unklar, ob sie auf freiem Willen beruhten und ob sie im Wissen um die Folgen der geäusserten Wünsche verfasst worden seien. Zudem müssten sie interpretiert werden.
Aebi-Müller nennt das Beispiel einer schwer krebskranken Frau, die laut Patientenverfügung «keine Schläuche» wollte. Die Frau habe kurz vor ihrem Tod die Blase nicht mehr entleeren können. Zwar habe sie darunter sichtlich gelitten, doch die Pflegeverantwortliche habe aufgrund der Patientenverfügung auf einen Katheter verzichtet. Der Chefarzt habe jedoch bezweifelt, dass die Patientin diesen «Schlauch» meinte. Der Arzt habe der Frau, die nicht mehr bei Bewusstsein war, den Katheter schliesslich gelegt. Noch in der folgenden Nacht sei die Frau «friedlich eingeschlafen».
Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung und der Vertretungsrechte der Angehörigen müssten kritisch hinterfragt und angepasst werden, sagte Aebi-Müller, die Privatrecht an der Universität Luzern lehrt. Es brauche eine Vorsorgeplanung, in der mit den Menschen frühzeitig verschiedene Entscheidungssituationen besprochen würden. Das Ergebnis dieser Gespräche, die mit ärztlicher Beratung geführt würden, sollten in die Patientenverfügungen fliessen. Diese Leistung müsse kassenpflichtig werden.
Pflegeurlaub für Angehörige?
Für die Pflege zu Hause fordern die Forschenden bessere Bedingungen. Pflegende Angehörige litten unter einer hohen Belastung, vor allem wenn sie berufstätig seien. Manche liessen sich krankschreiben, damit sie jemanden pflegen könnten. Die Forscher empfehlen eine Regelung mit den Arbeitgebern. Denkbar wäre eine analoge Lösung zum Mutterschaftsurlaub, sagte Markus Zimmermann, Präsident der Leitungsgruppe des Forschungsprogramms.
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