Die letzte Reise der Feuerländer
1882 starben in Zürich fünf Chilenen, die Teil einer Völkerschau waren. Die sterblichen Überreste werden nun in ihre Heimat überführt.
Im Kaffeeraum des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich breitete sich gestern Nachmittag eine andächtige Stille wie in einer Kirche aus. Im Raum stehen unter anderem hochrangige Vertreter der Universität, eine fünfköpfige Delegation aus Chile mit Abgesandten der Volksstämme der Kawesqar und der Yahgan sowie ein Vertreter der chilenischen Botschaft. In ihrer Mitte liegen auf einem Tisch sechs fest verschnürte Kartonkisten. Behutsam legt Professor Christoph Zollikofer auf jede der Boxen eine weisse Rose. In den Schachteln befinden sich die sterblichen Überreste von zwei Männern, zwei Frauen und einem Mädchen: «Die Wilden von den Feuerlandinseln.» Sie wurden 1882 nach Zürich gebracht, um im Plattentheater am Zürichberg die Leute zu unterhalten. Zollikofer wendet sich an die chilenische Gruppe und sagt auf Spanisch: «Es ist kein einfacher Weg, seine Vorfahren auf diese Weise zurückzuerhalten.» Mit der Repatriierung der Gebeine endet eine lange Geschichte, die im Winter 1882 ihren Anfang nahm.
Halb nackt vor dem Publikum
Der Wirt Josef Grüninger hatte damals sein Etablissement zum Amphitheater umgebaut. Er stellte ein Podium auf und verzierte es mit Zweigen. Unter dem Abzugsrohr installierte er ein offenes Feuer, schreibt die Autorin Rea Brändle in ihrem Buch «Wildfremd, hautnah» über die Völkerschauen in Zürich. Die Feuerländer sollten sich vor den Augen der Zuschauer möglichst natürlich aufführen, halb nackt am Boden kauern, Pfeile schnitzen und Binsen flechten. Die zehnköpfige Gruppe stammte aus dem südwestlichen Teil Chiles. Über verschlungene Wege - ein chilenischer Seehundjäger soll sie halb verhungert aufgefunden haben - gelangten sie von den Hermiteninseln am Kap Hoorn über Punta Arenas mit dem Frachtschiff von Kapitän Schweers nach Hamburg. Dieser versprach sich ein Geschäft und übergab die Truppe dem Tierhändler Carl Hagenbeck, der regelmässig Völkerschauen organisierte.
Die Behörden schenkten dem Treiben ebenso wenig Beachtung, wie sich Hagenbeck für die Identitäten seiner Showtruppe interessierte. Er gab ihnen die Namen, die sich Kapitän Schweers auf der langen Reise ausgedacht hatte. Die Männer hiessen Capitano, Antonio, Pedro und Henrico, die Frauen Trine, Grethe, Liesel, Linda und Frau Capitano. Die beiden Mädchen wurden Frosch und Dickkopf genannt. Sieben Monate lang sollten sie durch Europa touren. Nachdem die Feuerländer-Schau im Pariser Jardin d'Acclimatation mit einer halben Million Zuschauern zum Publikumsmagneten avanciert war, stiegen die Erwartungen von Platten-Wirt Grüninger. Die erste Vorstellung am 18. Februar 1882 war ausverkauft.
Die Schädel aufgebohrt
Als die Truppe einen Tag vor der Premiere in Zürich eintraf, waren alle Mitglieder erkältet oder krank. Henrico hatte starke Schmerzen, Grethe starb auf dem Weg nach Zürich. Ihre Leiche wurde in die Anatomische Abteilung der Universität Zürich gebracht, schreibt Rea Brändle in «Wildfremd, hautnah». Während Henrico im Kantonsspital gepflegt wurde, mussten die anderen im Platten-Theater auftreten. Weil die Truppe immer apathischer wurde, ersann Grüninger Neues, um sein Publikum bei Laune zu halten: Antonio gab er Pfeil und Bogen, «die schöne Liesel» behängte er mit Glasperlen, und die Männer liess er Tabakpfeifen rauchen. Doch den Feuerländern ging es immer schlechter. Grüninger wollte die Kranken trotzdem auf die Bühne schicken. Der Arzt Johannes Seitz, der als Nachbar die Lage kannte, schritt ein und intervenierte erfolgreich beim Polizeivorstand.
Henrico starb am 28. Februar im Kantonsspital. Die offizielle Todesursache hiess Lungenentzündung. Doktor Seitz wusste allerdings, dass der Mann auch an einer Geschlechtskrankheit litt, dem «brandigen Schanker». Weitere Nachforschungen des Arztes ergaben, dass er das Geschwür offenbar von Trine hatte, die wiederum von einem Europäer angesteckt worden war.
Am 11. März starb Liese, am nächsten Tag Frau Capitano und ihr Mann. Die drei Leichen wurden seziert. Lieses Geschlechtsteile kamen nach München zu Professor Bischoff, der nachholen konnte, was die Frau ihm verweigert hatte. Bischoff wollte sie untersuchen, als die Völkerschau in München gastierte. Capitanos Schädel wurden aufgebohrt und im Aufsatz «Zwei Feuerländer-Gehirne» beschrieben. Die Überlebenden blieben bis zum 22. März in Zürich. Der Presse war das Schicksal der Truppe grösstenteils egal. «Bereits ist einer gestorben. Selbstverständlich finden die Ausstellungen doch statt, da ein solcher Fall kein Anlass zu besonderer Trauer ist», schrieb «Die Limmat».
Zollikofer trifft heute mit den sterblichen Überresten in Chile ein. Die Gebeine werden nach einem Staatsakt in Anwesenheit von Chiles Staatspräsidentin Michelle Bachelet in einer rituellen Zeremonie auf einer Insel in der Magellanstrasse beigesetzt. In Chile löste der Fall ein enormes Echo aus. Den Stein ins Rollen brachten zwei Journalisten, die einen Dokumentarfilm über die Feuerländer drehten und in Europa auf deren Spuren wandelten. Für die Universität ist es die erste Repatriierung dieser Art. Die Verhandlungen hätten mehr als ein Jahr lang gedauert und seien nicht einfach gewesen, sagt Zollikofer. Die Universität bezeichnet die Aktion als Akt der Menschlichkeit. «Der wissenschaftliche Verlust ist kleiner als der menschliche Gewinn», sagt Zollikofer.
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