
Sie liebt die Sonne, ist gerne draussen im Garten. In den Ferien zieht es sie in die Wüste, den Nahen Osten oder Nordafrika. Für viele der Patienten von Elisabeth Minder eine Horrorvorstellung. Es gibt wenig, wovor sie sich mehr fürchten als vor der Sonne. Wenn deren Strahlen auf sie treffen, krümmen sie sich vor Schmerzen und bekommen an exponierten Stellen Verbrennungen. Es sei wie Feuer unter der Haut, sagen Betroffene.
«Die Patienten sind von den Schmerzen traumatisiert, vergleichbar mit Folter- oder Unfallopfern», sagt Elisabeth Minder. Sie sitzt in ihrem schlicht eingerichteten Wohnzimmer, wo wir sie auf einen Kaffee treffen. Sie ist weltweit eine der wenigen Spezialisten für die seltene Stoffwechselerkrankung Porphyrie. Am Zürcher Stadtspital Triemli, wo sie 1993 als erste Frau einen Chefarztposten erhielt, führt sie die einzige Sprechstunde für Porphyrie-Patienten in der Schweiz. Bis heute, obwohl sie eigentlich seit drei Jahren pensioniert ist.
Bei der Porphyrie funktioniert die Herstellung des roten Blutfarbstoffs Häm nicht richtig. Es reichern sich Zwischenprodukte im Körper an, was bei vielen Unterformen zu Bauchschmerzen, manchmal auch zu Leberproblemen oder neurologischen Ausfällen führt. Besonders bei einer Variante, der sogenannten Erythropoetischen Protoporphyrie (EPP), leiden Patienten unter schmerzhafter Lichtempfindlichkeit. Ohne Behandlung führen sie ein Leben im Schatten, in Kleider vermummt und mit Schirm. Sonnenschutzmittel helfen ihnen nicht.
Sie steckt voller Ideen
EPP ist in den letzten Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Obwohl in der Schweiz höchstens rund 80 Patienten darunter leiden, hält die Lichtkrankheit bis heute Krankenkassen und Behörden auf Trab. Sie ist ein Paradebeispiel dafür, wie Patienten der Willkür von Pharmafirmen und Krankenkassen ausgeliefert sein können.
Eigentlich gibt es seit ein paar Jahren das Medikament Scenesse, das die Lichtempfindlichkeit der Betroffenen stark senkt und ihnen ein annähernd normales Leben ermöglicht. Doch dann verdreifachte 2016 der australische Hersteller Clinuvel den Preis für die Behandlung auf rund 70 000 Franken pro Jahr. Die Krankenkassen fühlten sich von der kleinen Herstellerfirma erpresst, jede zweite stellte die Zahlungen ein. Für die Betroffenen, von denen viele schon mehrere Jahre fast ohne Schmerzen leben konnten, eine Katastrophe. «Die Reaktion der Kassen hat die Falschen getroffen», sagt Minder. Für die Preiserhöhung von Clinuvel hat sie Verständnis: «In den Niederlanden und in Deutschland wurde derselbe Preis durch die staatlichen Institutionen anerkannt.» Zudem habe die Firma davor das Medikament für Studien lange gratis und später vergünstigt zur Verfügung gestellt.
Wer die Medizinerin zum ersten Mal trifft, unterschätzt sie leicht. Sie strahlt Bodenständigkeit und Bescheidenheit aus. Auch ihr Haus: Ende der 80er gebaut, steht es in einem ruhigen Wohnquartier von Adliswil ZH und ist einfach und praktisch eingerichtet. An den Wänden hängen Drucke mit ägyptischen Hieroglyphen und eine Zeichnung als Dankeschön von ihren Patienten.
«Für mich war der Preisaufschlag auch ein Schock», sagt Elisabeth Minder. Die Ironie: Sie war selber massgeblich daran beteiligt, dass das Medikament heute Realität ist. Dank ihr haben sich denn auch die Wogen inzwischen etwas geglättet. In zahllosen Gesprächen und Briefwechseln konnte sie die Zuständigen überzeugen. «Ich bin eine halbe Juristin geworden», sagt sie. Heute zahlen fast alle Kassen, einzige Ausnahme ist die CSS.
Die Baslerin erinnert sich noch gut daran, wie es mit dem Lichtschutz-Medikament Scenesse angefangen hat. 2006 machte sie ein Patient auf die kleine australische Firma Clinuvel aufmerksam. Diese kündigte auf der Website ein neues EPP-Medikament an – etwas vollmundig, wie sich später herausstellte, denn grössere Studien damit existierten noch nicht. «Am folgenden Sonntagmorgen nahm ich per E-Mail Kontakt mit der Firma auf und erhielt sofort Antwort», erzählt Minder. Drei Monate später reichte sie den Antrag für die erste klinische Studie mit EPP-Patienten bei der Ethikkommission ein. «Den Zeitpunkt werde ich nie vergessen», so Minder. Sie hatte zusammen mit den Verantwortlichen von Clinuvel rund um die Uhr am Studiendesign gearbeitet. Die Studie wurde ein Erfolg. Die Patienten vertrugen die Sonne viel besser und hatten kaum Nebenwirkungen. Es folgten weitere Studien in der Schweiz, den USA und Europa. Ein persönliches Honorar hat Minder von Clinuvel übrigens nie bezogen. Bewusst nicht, betont sie.
Minder ist initiativ, nimmt bei Problemen die Sache selbst in die Hand, bleibt dran und setzt sich durch. Und sie steckt immer voller Ideen für neue Projekte. «Ich muss jeweils achtgeben, dass ich andere nicht überfahre.» Ihr Team ist damit meist gut klargekommen. «Ich hatte das Glück, dass ich immer fantastische Mitarbeiter hatte», sagt Minder. Offensichtlich hatte sie auch ein gutes Händchen dafür, die richtigen Leute zu finden. «Das Wissen und die Motivation der Mitarbeiter sind das grösste Kapital», so die Medizinerin.
Als Frau eine Exotin
Aufgewachsen ist Elisabeth Minder in der Stadt Basel, in einer Genossenschaftssiedlung mit Reihenhäuschen an einer kleinen Strasse und vielen Kindern. Obwohl ihre Eltern keine Akademiker waren, wollte sie schon bald wie ihre drei Brüder studieren. Es sollte Medizin sein, was damals für eine Frau ungewöhnlich war. Die Eltern und auch die Lehrer rieten vergebens ab. «Ich war immer schon etwas rebellisch», so Minder. Nach dem Studium spezialisierte sie sich auf Innere Medizin mit Zusatz Klinische Pharmakologie und landete schliesslich am Universitätsspital Zürich. Dort beschäftigte sie sich schon bald intensiv mit Porphyrien. Sie etablierte Analysemethoden, mit denen die verschiedenen Unterformen diagnostiziert werden konnten. Später gelang es ihrem Team, eine Genmutation zu entschlüsseln, die bei einer Patientin mit einer schweren Leberkomplikation zu EPP führte.
Minder wurde zwar während ihrer Laufbahn immer wieder gefördert. Doch als Frau war sie in der männlich dominierten Welt der Wissenschaft und Medizin bis in die 80er-Jahre eine Exotin. «Man kannte mich an den Kongressen wie einen bunten Hund», sagt sie. Vielleicht hat dieses Aussenseitertum dazu beigetragen, dass es Elisabeth Minder gut gelingt, das Vertrauen ihrer Porphyrie-Patienten zu gewinnen. Eine Rolle spielt mit Sicherheit jedoch, dass sie seit ihrer Kindheit an heftigen Migräneattacken leidet und weiss, was Schmerzen bedeuten können. «Wegen ihrer vielen negativen Erfahrungen öffnen sich die EPP-Patienten meist erst, wenn sie merken, dass man weiss, wovon sie sprechen», sagt Minder. Sie wünscht sich, dass ihnen jetzt «eine gesicherte, längerfristige Behandlung gewährt wird».
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Die Lichtgestalt
Früher kämpfte sie gegen Rollenklischees, heute gegen Krankenkassen: Die Medizinerin Elisabeth Minder hat das einzige Medikament gegen eine Lichtkrankheit mitentwickelt.