Die Macht der modernen Monster
Frankenstein und der Vampir wurden beide vor rund 200 Jahren am Genfersee erfunden. Das Musée Rath in Genf zeigt ihren Einfluss bis heute.
Eine illustre Schar ist auf zwei Stockwerken versammelt, alle sind sie auf unterschiedliche Weise Erben der «schwarzen Romantik»: Da ist eine Gewitterlandschaft von Caspar Wolf, das Pandämonium in Goyas Grafikserie «Los Caprichos», eine «Crime scene» von Cindy Sherman, der «mütterliche Mann» von Louise Bourgeois, Kriegskrüppel von Otto Dix und George Grosz, Hans Ernis Plakat mit dem aus einem Totenschädel entweichenden Atompilz. Eine biomechanoide Kreatur H. R. Gigers hängt sprungbereit an der Wand, ein Sarg aus leuchtenden Neonröhren von Sarah Lucas scheint auf einen Gast zu warten, und eine Assemblage von Niki de Saint Phalle ist direkt vom japanischen Film «King Kong vs. Godzilla» beeinflusst.
Die Kreatur aber, die am Anfang dieser Ahnengalerie des Schreckens steht, könnte man glatt übersehen. Sie spielt in dieser Schau nur eine Nebenrolle. Auf einem Filmstill aus dem Jahr 1931 steht sie ihrem Schöpfer gegenüber, Dr. Viktor Frankenstein, einem modernen Prometheus mit brennender Fackel in der Hand. Er und sein von Boris Karloff gespieltes Geschöpf treffen in einer düsteren Felsenlandschaft aufeinander, zur finalen Auseinandersetzung. «Verfluchter, doppelt verfluchter Schöpfer!», schreit das Monster. «Warum musste ich auch leben? Warum erlosch damals nicht der Funke, den du leichtfertig und frevelhaft entfachtest?»
Fast 200 Jahre ist es her, dass die Londoner Autorin Mary Shelley der Kreatur diese Worte in den Mund legte. Die damals 21-Jährige erneuerte mit ihrem 1818 veröffentlichten Roman «Frankenstein oder Der moderne Prometheus» die «gothic literature», die meist in einem mittelalterlichen Umfeld von Burgen und Ruinen angesiedelt war. Shelleys neue «gothic literature» steht am Anfang des Science-Fiction-Genres.
Archetypische Untote
Im Jahr 1931 gelangte nicht nur «Frankenstein» von James Whale in die Kinos, sondern auch «Dracula» von Tod Browning mit Bela Lugosi in der Titelrolle. Die beiden Filmklassiker markierten die Anfänge des Horrorfilms und beeinflussen die Ikonografie der beiden archetypischen Untoten bis heute: Hier der Hüne mit quaderförmigem Haupt, dessen Körper mit Nähten übersät ist, da ein bleiches Nachtschattengewächs mit schwarzem Umhang und Stehkragen.
Im Musée Rath in Genf zeigt jetzt die grosse Jubiläumsausstellung «Die Rückkehr der Finsternis. Gotische Bilderwelten seit Frankenstein» die Auswirkungen auf die Kunst bis in die Gegenwart. Das Adjektiv «gothic» will das Kuratorenduo Justine Moeckli und Konstantin Sgouridis dezidiert nicht auf die traditionelle Charakterisierung des Schauerromans beschränken mit den unverzichtbaren Versatzstücken Totenschädel, Vampire, Särge oder Kruzifixe. Vielmehr interessieren sie sich für thematische Gemeinsamkeiten zwischen den Romanen aus dem 19. Jahrhundert und der zeitgenössischen Kunst: das schreckenerregende Erhabene; Naturkatastrophen und der letzte Mensch; die Konfrontation von Wissenschaft und Natur; Vernunft und Gefühl.
Genf passt, wurden hier doch vor 200 Jahren sowohl Frankenstein als auch der moderne Vampir geistig gezeugt. Als sich 1816 ein Zirkel englischer Dichter in Genf traf, herrschte in Europa «Endzeitstimmung»: Das «Jahr ohne Sommer» war angebrochen. Ein Vulkan in Indonesien hatte so viel Rauch und Asche in die Atmosphäre gespuckt, dass sich selbst in Europa der Himmel verdüsterte.
Lord Byron und Percy Shelley finden sich unter diesen apokalyptischen Vorzeichen am Genfersee ein, ebenso Shelleys spätere Frau Mary, Byrons Leibarzt, John Polidori, und seine schwangere Ex-Geliebte Claire Clairmont. In der Villa Diodati in Cologny mieten sie sich ein – an Ausflüge ist nicht zu denken. Die Runde trinkt, redet und flösst sich Opiate ein. Man spricht über galvanische Experimente, bei denen die Muskeln toter Frösche auf Stromstösse noch reagieren. Und sie erzählen sich um die Wette Schauergeschichten.
Ängste der Zeit
Hintergrund der «schwarzen Romantik» sind auch die aktuellen politischen und ökonomischen Brüche: Der Terror der Französischen Revolution wirkt nach, das kriegerische Zeitalter Napoleons, die anbrechende Industrialisierung und der Siegeszug der Naturwissenschaften verändern das Menschenbild und lösen traditionelle religiöse Bindungen auf.
Das Ergebnis des Genfer Erzählwettstreits sind Figuren, welche die Ängste der Zeit spiegeln und einen modernen Monstertyp verkörpern – keine Wesen mehr mit Teufelshörnern oder Schlangenschwanz. Neben Mary Shelleys «Frankenstein» entsteht auch John Polidoris «The Vampyre» – auf einer Idee von Lord Byron basierend und später von Bram Stoker («Dracula») literarisch verewigt. Der erste Raum der Ausstellung evoziert die Stimmung der Villa in Cologny. An der Wand sind die Porträts der jungen englischen Protagonisten versammelt, aus Lautsprechern erklingt Regen – Hörstationen bieten Auszüge aus den Werken der Dichter an. In ihren unveröffentlichten Memoiren erwähnt Claire Clairmont, die unglückliche Geliebte Byrons, den freien Willen, der für Shelleys und Byrons Lebensphilosophie von zentraler Bedeutung gewesen sei, aber auch zuhauf böse Leidenschaften in ihnen zum Vorschein gebracht habe: «Sie wurden zu Monstern der Grausamkeit, der Täuschung und des Verrats.» Byron wird als «menschlicher Tiger» beschrieben, der sich auf hilflose Frauen stürzt.
Bei der US-Amerikanerin Dana Schutz ist die Figur des Frank ein hilfloses Geschöpf. Als «letzte Künstlerin auf Erden» hat sie den letzten Menschen in seinem einsamen Alltag dargestellt – auf einem Felsen inmitten einer unermesslichen Wasserfläche.
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Bis 19. März. Katalog 50 Fr.
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