Die Mädchen von Telford
Der Skandal um bandenmässig organisierten Kindesmissbrauch nimmt immer grössere Dimensionen an. 1000 Mädchen könnten betroffen sein.

Geschichte wiederholt sich eben doch. Ein so trauriges wie hochaktuelles Beispiel dafür: das Städtchen Telford in Nordwestengland.
Jahrelang hatten Berichte über Banden von überwiegend pakistanisch-stämmigen Männern, die Kinder und Jugendliche sexuell ausbeuteten, die Briten in Atem gehalten. Grooming heisst das mittlerweile international bekannte Phänomen, bei dem Männer das Vertrauen von Mädchen und jungen Frauen mit Flirts und Geschenken gewinnen, diese dann missbrauchen, abhängig machen, manipulieren oder mit Gewalt zum Schweigen bringen – und in vielen Fällen auch an andere Männer weiterreichen.
Die Liste der Städte, in denen der bandenmässig organisierte sexuelle Missbrauch im Königreich stattgefunden hat, ist lang, sie reicht von Rotherham und Rochdale über Newcastle und Manchester bis Oxford. Nur dem Mut von Opfern, die sich nicht abweisen liessen, von Sozialarbeitern, die von ihren Arbeitgebern massiv unter Druck gesetzt wurden, und der Ausdauer britischer Medien ist es zu verdanken, dass diese Skandale irgendwann, in der Regel erst nach vielen Jahren, ans Tageslicht kamen. Denn Stadtverwaltungen und Polizei griffen nicht nur oft nicht ein, obwohl die Indizien überwältigend waren, sondern schützten die Täter auch noch. Der Sex sei einvernehmlich gewesen, hiess es meist, oder die Verantwortlichen schauten ganz weg, weil sie sich nicht dem Vorwurf des Rassismus gegenüber der asiatischen Bevölkerung ausgesetzt sehen wollten.
Als dann die ersten Täter endlich verurteilt waren, als Ignoranz und politisches Versagen derer, die nichts unternommen hatten, öffentlich geworden waren, hiess es: So etwas wird sich nicht wiederholen. Wir haben gelernt. Nun aber macht Telford, 170'000 Einwohner, Schlagzeilen. Jahrelang hatte Liz Kelly von der London Metropolitan University, die über den Missbrauch von Kindern und Frauen forscht, darauf hingewiesen, dass auch hier Mädchen von Grooming Gangs ausgebeutet würden. Auch die konservative Abgeordnete Lucy Allan, die ihren Wahlkreis in Telford hat, forderte eine Untersuchung. Denn seit Jahren schon gab es Hinweise, dass sich das Muster wiederholt. Aber nichts geschah. Diesmal war es der «Sunday Mirror», der dranblieb.
40 Jahre lang seien die Behörden untätig geblieben, schrieb das Blatt Mitte März, denn die ersten Hinweise auf Grooming, was damals als Begriff noch nicht eingeführt war, gab es Anfang der Achtzigerjahre. Bis zu eintausend Mädchen seien von ihren Familien entfremdet, drogensüchtig gemacht, geschlagen und vergewaltigt worden, drei seien sogar ermordet worden, zwei seien bei einem gelegten Feuer umgekommen, bei dem eine Familie, die ihre Tochter retten wollte, zum Schweigen gebracht werden sollte.
Sozialarbeiter hatten auch hier schon in den Neunzigerjahren festgestellt, dass die Missbrauchszahlen im Ort explodierten. Behörden bezeichneten die Opfer dennoch als «Prostituierte». Aus Angst vor Rassismusvorwürfen wurden die Ermittlungen verschleppt. Jetzt gibt es eine interne Untersuchung in der Kommune; zusätzlich müsse es, fordern Opferverbände, auch eine unabhängige Untersuchung geben, finanziert durch Geld von der Regierung.
Gleichzeitig bestreitet die Polizei die Zahlen, diese seien spekulativ und übertrieben. «Wir sind nicht schlimmer als andere Gegenden in England», sagte ein leitender Beamter. Man habe aber bereits 56 Personen festgenommen, und die Ermittlungen gingen weiter. Es gehe dabei um alte Missbrauchsvorwürfe, nicht um aktuelle.
Die lokale Abgeordnete Lucy Allen hat vergangene Woche mitgeteilt, sie sei überschüttet worden von den Berichten weiterer Opfer, die sich nicht an die Polizei, sondern an sie mit der Information gewandt hätten, auch ihnen sei «das passiert». Eine der jungen Frauen, die unter dem Pseudonym Holly Archer aussagte und damit die Ermittlungen stützte, hat mittlerweile eine Onlinepetition gestartet, in der sie fordert, die zur Verantwortung zu ziehen, die «nicht gehandelt – und Kinder und Jugendliche nicht geschützt haben».
Etwa eine halbe Million Briten konsumieren Kinderpornografie, schätzt die Polizei
Der Skandal in Telford kommt zu einer Zeit, in der Polizei und Kinderschutzorganisationen sich mit schockierenden Nachrichten an die Öffentlichkeit wenden. Die Zahl der Anzeigen wegen Kindesmissbrauch in England und Wales sei im vergangenen Jahr um 30 Prozent angestiegen, berichtet die NSPCC, eine nationale Hilfsorganisation. Die Anzeigen wegen Kinderpornografie hätten sich in den vergangenen Jahren sogar verdreifacht. Etwa eine halbe Million Briten konsumierten Kinderpornografie im Netz, schätzt Scotland Yard.
Der Chef der auf Kindesmissbrauch spezialisierten Polizeieinheit «Operation Hydrant» sagte der BBC, die Ermittler kämen schlicht nicht mehr gegen die «ungeheuren Dimensionen» dieser Verbrechen an; er schlug vor, vordringlich nur noch gegen die zu ermitteln, die den Missbrauch tatsächlich begingen, um ihn dann ins Netz zu stellen – «wir kommen sonst nicht mehr hinterher». Die Polizei sei mit ihren Ressourcen unter anderem durch die zahlreichen Grooming-Skandale, aber auch durch Ermittlungen gegen Prominente und Sportvereine überfordert. Auch psychologische Beratungsstellen geben an, sie müssten täglich Missbrauchsopfer abweisen, weil die Kapazitäten nicht ausreichten. Die Mitarbeiterin einer Hotline sagte der BBC, ihre Notfallexperten berieten monatlich 800 Opfer – aber etwa 2500 Anrufern könne nicht geholfen werden. «Die Nachfrage ist einfach zu gross, weil die Not zu gross ist.»
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