Die Märtyrer am Kiosk
Gabriel Vetter über Lottospieler und das Risiko, von einem Lastwagen überfahren zu werden.

Leute, die Lotto spielen, beruhigen mich irgendwie. Sie beruhigen mich, weil ich mich dann selber beschwichtigen kann mit dem Gedanken, dass ich wenigstens nicht der einzige bekloppte Lump bin auf dieser Erde.
Dass man Geld in einen Kiosk hineinschleppt, um es dort quasi auf Nimmerwiedergüx abzugeben, zeugt selbstverständlich von Irrationalität, aber eben auch von Grossmut und radikaler Weitsicht. Ein Lottokiosk ist eine Abtreibungsklinik fürs Ersparte. Wer dort Geld reinwirft, der weiss, dass es so etwas wie Glück nie geben kann.
Wer Lotto spielt, hält sich nicht auf mit dem Erwerb von niederen, am selben Kiosk erhältlichen Endorphin-Umpa-Lumpas wie Schoggistängeli oder Bounty-Riegel oder Klatschheftli, mit Dingen also, die uns eine kurze Zeit Linderung versprechen, nur um uns wenige Minuten nach dem wohligen Zuckerschock oder nach der Mini-Lobotomie als erneut gebrochene Gestalten wieder in die Kälte der Welt hinauszukatapultieren. Lottospieler überspringen diese lächerlichen Vorstufen der Hoffnung und schmeissen das Geld en bloc gleich direkt in den Höllenschlund des ewigen Nichts.
Natürlich: In der Schweiz landet all das beim Lotto verspielte Geld nicht im Höllenschlund des ewigen Nichts, sondern im Lotteriefonds. Was für viele ja irgendwie dasselbe ist. Der Lotteriefonds finanziert kulturelle Projekte. Was, verkürzt gesagt, heisst: Ein Grossteil des freien Tanztheaters des Landes ist aufgebaut auf den Hoffnungen der traurigen Bierdosen-Männer am Lottokiosk. Die fidelen, sommerbesprossten Söhne und Töchter aus den bildungsbürgerlichen Speckgürteln der Agglomeration tanzen ihren systemkritischen Merengue also auf den zerstörten Lebensträumen des über Jahre hinweg erfolgreich herangezüchteten Spielsucht-Pöbels.
Ab 30 Millionen dabei
Spannend wird es mit dem Lotto ja, wenn wie an diesem Wochenende ein besonders hoher Geldbetrag im Lottojackpot hockt und somit neben den bereits glücklich Verlorenen auch noch Unmengen von sonst unbefleckten Lottozivilisten ihr Erspartes aufs Spiel setzen. Da offenbart sich, dass die eigentlich stabil im Leben stehenden, nur ausnahmsweise dem Glücksspiel frönenden Menschen noch viel irrer sind als die eigentlich Spielsüchtigen. Was nur, frage ich mich, was geht in den Köpfen von Menschen vor, die erst Lotto spielen, wenn es mehr als 30 Millionen zu gewinnen gibt? Lauern die daheim, die Funktionsjacke stets griffbereit, und sagen sich: «Für läppische 2 Millionen Franken geh ich sicher nicht zum Kiosk. Ab 20 Millionen denk ich vielleicht nach, die Jacke anzuziehen, und ab 30 Millionen, da mach ich mich dann auf den Weg.»
Jetzt, interessant ist ja Folgendes: Das Risiko, auf dem Weg zum Lottokiosk von einem Lastwagen überfahren zu werden, ist tausendmal grösser, als tatsächlich im Lotto zu gewinnen. Das heisst: Bei jedem Gang durch die Stadt, um den Lottozettel abzugeben, setzt ein Mensch sein Leben wissentlich und willentlich aufs Spiel. Was für die Kunst ja wiederum Folgendes bedeutet: Der gemeine Lottospieler ist bereit, am Altar des Glücksspiels sein Leben zu geben für den modernen Tanz in der Schweiz. Der kettenrauchende Lottospieler ist der Märtyrer des zeitgenössischen Kulturschaffens. Im Paradies erwarten ihn, inschallah, 72 jungfräuliche TheaterabonnentInnen, gekleidet in einen Hauch aus Nichts und mit einem Béret aus Filz.
Toi, toi, toi!
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