«Die meisten Verbrecher sind ziemlich dumm»
Der Schwede Arne Dahl gehört zu den populärsten Krimiautoren der Welt. Für ihn haben Krimis heute solchen Erfolg, weil sie die Brutalitäten thematisieren, die hinter den Verbrechen stehen.

Sie sind promovierter Literaturwissenschaftler und, unter Ihrem bürgerlichen Namen Jan Arnald, Autor von Romanen. Wie kamen Sie zum Krimi?
Ich wollte mehr Lust beim Schreiben haben, als Literaturwissenschaftler verging sie mir zuweilen. Als 30-Jähriger hatte ich versucht, unvergängliche Meisterwerke zu schreiben, Klassiker – das hat nicht ganz geklappt. Und schliesslich: Wir alle lieben gute Geschichten. Und Krimis sind gute Geschichten. Erzählt auf eine sehr deutliche Art und Weise.
Aber auch auf eine sehr blutige Art. Worin liegt die Lust, von Verbrechen zu erzählen?
Literatur handelt immer von Leben und Tod. Von Recht und Unrecht, Gut und Böse. Und es geht um die dunkle Seite der Existenz. Beim Krimi wird all das nur deutlicher. Und: Sie bekommen ein grösseres Publikum. Ich wollte nicht mehr nur für mich selbst schreiben.
Jetzt schreiben Jan Arnald und Arne Dahl parallel. Profitiert der eine vom anderen? Sind sie eifersüchtig aufeinander?
Nun, die beiden haben ein etwas schwieriges Verhältnis. Aber als ich Arne Dahl wurde, hat man auch Jan Arnald mehr gelesen. Wenigstens ein bisschen mehr. Ich muss aber sagen: Ich habe mich wirklich in das Krimigenre verliebt, es ist eine wunderschöne Art des Erzählens. Klar, der Krimi braucht einen starken Plot, es geht um Action, nicht um Zustände. Trotzdem versuche ich immer wieder, die Grenzen des Genres zu verschieben und etwa literarische Anspielungen unterzubringen.
«Der Krimi hat eine therapeutische Funktion – auch für mich als Autor.»
In Ihrer jüngsten Trilogie spielen Joyce, Shakespeare oder die Bibel eine Rolle.
90 Prozent meiner Kreativität wird beim Krimischreiben befriedigt. Aber nicht alles. Deshalb schreibe ich weiter Jan-Arnald-Romane. Dafür brauche ich aber viel mehr Zeit. Manchmal Jahre, bis ich überhaupt einen Zugang zum Thema gefunden habe. Und ich kann es mir nicht leisten, fünf Jahre auf das nächste Buch zu warten. So habe ich zwei verschiedene Tempi als Autor.
Welche Wirkung sollten Ihre Krimis auf die Leser haben?
Ich glaube, der alte Katharsis-Effekt funktioniert bei guten Krimis immer noch. Man taucht in Finsternis ein, aber es gibt das Versprechen, dass am Ende die Wahrheit ans Licht kommt, dass das Irrationale, das Chaotische ins Rationale überführt wird. Es gibt in unserer Welt ja wahrlich Schrecken in Hülle und Fülle. Das führt zu Ängsten, die vielleicht irrational sind. Im Krimi werden sie ausagiert und aufgelöst. Sie werden in ein viereckiges Ding gepackt, ein Buch. Am Ende ist die Balance zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht wiederhergestellt. Insofern hat der Krimi eine therapeutische Funktion – auch für mich als Autor.
Das Genre boomt. Ist unser Leben so langweilig, dass wir uns den Thrill aus der Fiktion holen müssen?
Ich glaube, es ist umgekehrt. In einer perfekten Welt brauchten wir keine Krimis. Der enorme Erfolg des Genres ist gerade ein Zeichen, dass etwas falsch läuft – davon versuchen die Krimiautoren etwas einzufangen. Verbrechen sind immer Grenzüberschreitungen in einer Gesellschaft. Krimis zeichnen auch ein Bild davon, wie sich Grenzen verschieben und die Gesellschaft sich verändert. Welche neuen Formen des Verbrechens es gibt – Kreditkartenbetrug, Cyberkriminalität, das Internet als Raum des Verbrechens überhaupt.
«Manche Krimis liest man im Halbschlaf. Ich verlange mehr von den Lesern.»
Warum töten Menschen einander? Weil sie Schreckliches in ihrer Vergangenheit erlebt haben, oder gibts «das Böse»?
Vieles kann man erklären: Väter schlagen ihre Söhne, die werden gewalttätig und so weiter. Und dann gibt es das Unerklärbare: Serienmörder mit einer glücklichen Kindheit. Da kommt dann die Frage auf, ob es etwas in der menschlichen Natur gibt, das den einen böse macht und den anderen nicht? Ein Gen für das Böse? Vielleicht können wir in 20 Jahren ein solches Gen identifizieren. Vorläufig bleibt immer ein unerklärbarer Rest, eine Unschärfe. Und da liegt der Reiz für den Krimiautor. Die meisten Verbrecher sind übrigens ziemlich dumm. Das ist das unrealistische Element in meinen Büchern: dass meine Verbrecher sehr intelligent sind.
Sonst kämen die Ermittler schnell zum Ende.
Die intelligentesten Verbrecher bleiben sowieso unentdeckt. Etwa bei den ganz grossen Finanzbetrügereien.
Die sind aber unblutig. Warum brauchen Krimis immer Mord und Totschlag?
Dazu zwei Antworten. Die erste: Mord betrifft die Grenze zwischen Leben und Tod, eine absolute Grenze. Es gibt kein Zurück. Und die zweite: Auch die grossen Wirtschaftsverbrechen sind mit Gewalt verbunden, auch wenn diese nicht immer zutage tritt. Gewalt ist nur die offene Umsetzung von Macht, Macht ist abstrakte Gewalt. Ich würde tatsächlich gern einmal einen spannenden Krimi ohne alle Formen von Gewalt schreiben. Aber ich habe das Thema und die Methode noch nicht gefunden. Es ist fast unmöglich.
«Ich ziehe eine klare Grenze zwischen Gewalt, die eine Funktion für die Handlungslogik hat, und purem Sadismus.»
Es gibt innerhalb des Genres die Skandinavien-Krimis. Gehören Sie noch dazu?
Der Skandinavien-Krimi beginnt in den 1960er-Jahren mit Sjöwall/Wahlöö. Ihre Serie um Kommissar Beck und sein Team setzt sich mit dem auseinander, was sie den «Verrat» der schwedischen Sozialdemokratie nennen. Mit dem, was hinter der schönen Fassade des «Volksheims» steht, in dem alle gleich und glücklich sind. Es ist eine politisch links stehende Tradition, zu der ich mit meinen ersten 15 Romanen, mit der «A-Serie» und der «Opcop-Serie», auch gehöre. Heute schreiben viele so, es ist eine richtige Welle, darunter auch viel Schlechtes. Dazu zähle ich mich heute nicht mehr. Es gibt Krimis, die können Sie im Halbschlaf am Strand lesen. Ich verlange von meinen Lesern schon etwas mehr. Sie müssen etwa Freude an vertrackter Logik haben.
Die schwedische Gesellschaft hat sich stark verändert durch Einwanderung, Rechtsruck, Terrorismus, spektakuläre Mordfälle...
Das spiegelt sich auch in meinen Romanen. Die neue Gefahrenlage erfordert eine neue Art von Polizeiarbeit, neue Methoden, verdeckte Ermittler. Vieles findet im Geheimen statt, ohne Transparenz, der demokratischen Kontrolle enthoben. In meiner Trilogie zeige ich, dass es schwierig sein kann, beide Seiten auseinanderzuhalten.
Muss man als Krimiautor nicht ständig die Dosis steigern, um die Leser in der Flut der Neuerscheinungen zu behalten?
Das ist tatsächlich ein Problem. Manche Autoren lieben es, Gewaltszenen detailliert auszumalen. Mir geht das nicht so. Ich ziehe eine klare Grenze zwischen Gewalt, die eine Funktion für die Handlungslogik hat, und purem Sadismus. Es ist schwierig, heute einen Krimi à la Agatha Christie zu schreiben, mit einer einzigen Leiche in einer Bibliothek und zehn Verdächtigen, die nach und nach ausgeschlossen werden. Die Steigerung der Dosis hat mit unserer Wirklichkeit zu tun. Oder vielmehr mit unserer Wahrnehmung: mit dem, was die Medien uns vermitteln. Es kommt uns alles zu nahe, das Smartphone liefert uns alle Schrecken der Welt frei Haus, täglich, stündlich. Es gab wahrscheinlich früher nicht weniger Verbrechen, aber wir haben sie nicht gesehen. Heute sehen wir sie alle, und daher kommt das Gefühl, es werde schlimmer und schlimmer.
«Spannend wäre eine grosse Verschwörung.»
Der berühmteste Kriminalfall in Schweden ist der Mord an Ministerpräsident Olof Palme 1986. Da er bis heute nicht aufgeklärt ist, gibt es immer neue Erklärungen. Haben Sie selbst auch eine?
Mein Autoren-Ich sagt: Spannend wäre eine grosse Verschwörung, in die das südafrikanische Apartheid-Regime verwickelt ist, Rechtsextremisten im schwedischen Sicherheitsdienst oder die CIA. Als Mensch und Schwede sage ich: Es war wahrscheinlich Zufall. Irgendein Drogensüchtiger, der eine Pistole hatte. Und auf Olof Palme traf, der naiverweise ohne Bodyguards spätabends durch die Stadt ging.
Kriminell kann man auch die Verhältnisse in der Schwedischen Akademie nennen, die den Nobelpreis vergibt. Hat die Akademie noch eine Chance?
Man reformiert und repariert, aber ohne die nötigen radikalen Schritte. Es sieht nicht gut aus, auch für den Nobelpreis. Ich glaube, auch 2019 wird es keinen Preis geben. Für mich ist klar: Alle müssen weg, alle 18 Mitglieder müssen neu gewählt werden.
Wer kann das veranlassen, der König?
Möglicherweise. Oder die Nobelstiftung verlangt, dass die Akademie sich auflöst und eine neue gegründet wird. Jetzt sind jedenfalls alle diskreditiert.
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