Die Mietvelo-Revolution
China war das Veloland schlechthin. Bis die Strassen für die Autos freigeräumt wurden. Doch jetzt besinnt man sich zurück. Neue Fahrradverleiher kämpfen um einen riesigen Markt.
In Peking passiert dir das: Du gehst abends ins Bett in der ewig grauen Stadt, und am nächsten Morgen wachst du auf in einer bonbonbunten Welt. Es hat nämlich Fahrräder geregnet. Knallgelbe, lichtblaue, giftgrüne, glitzernd silberne. Tausende, Zehntausende, Hunderttausende. Und nicht nur in Peking. In Shanghai, in Zhengzhou, in Kanton, in Nanjing, in Chengdu, in Wuhan, an jeder Ecke, in jeder Einfahrt, auf jedem Gehsteig: Räder.
China. Kaiserreich der Fahrräder, erinnert sich noch einer? Als ein blaugraues Volk im meditativen Schwarm seine Städte durchglitt, auf der schwarz lackierten Flotte aus der volkseigenen Manufaktur: auf der «Fliegenden Taube», auf dem «Phönix», auf der «Ewigkeit». Eine fast den Deutschen nachempfundene Liebe zum Auto machte der Ewigkeit dann vorzeitig den Garaus. Stadtplaner und frisch geborene Mittelstandsbürger bliesen zum Aufbruch in eine neue Zeit und zur Jagd auf Chinas Velofahrer. Die gaben schnell selbst auf. Bald war der Zeitgeist so, dass ihn eine junge Frau in einer TV-Kuppelshow kokett in die Worte kleidete: «Lieber sitz' ich weinend auf dem Rücksitz eines BMW als lachend auf einem Fahrrad.» Und die Velowege? Die gibt es bis heute, sie sind nur nicht mehr als solche zu erkennen: Sie dienen den Autos als Überholspur und werden als Parkplätze vermietet.
Die neuen Leihvelos
Ein paar versprengte Velofahrer gab es all die Jahre noch: diejenigen, die sich selbst die paar Cent für den Bus nicht leisten konnten, die Ausländer und die jungen Trotzköpfe aus der Gegenkultur. Noch 1990 radelten vier von fünf Pekingern, im letzten Jahr stieg nur noch jeder Achte ab und an auf ein Rad. Nicht nur der Umstieg aufs Auto, auch der Umbau der Städte hat dazu beigetragen: Kaum mehr einer wohnt in der Nähe seiner Arbeitsstelle, die meisten in Trabantensiedlungen weit ausserhalb. Städte wie Shanghai sperrten zentrale Strassen für Radfahrer. Die Folge: «Die Leute haben vergessen, wie man Fahrrad fährt», sagt Yin Zhifang, eine Forscherin vom Verkehrsministerium. Ein jeder Radler ein Don Quijote, eine jede Fahrt ein wildes Hakenschlagen unter endlosen Flüchen. Unterm Strich: eine aussterbende Spezies.
Und jetzt das. Das Stichwort heisst öffentlicher Fahrradverleih. Bike-Sharing. Gibt es anderswo auch. Aber nicht so wie in China. Wo die Dinge nicht wachsen, sondern explodieren, Knall und Rauch und russgeschwärzte Gesichter inklusive. Von der Stadtregierung organisiert kannte man das Bike-Sharing in China schon seit ein paar Jahren. Tatsächlich liegen von den 15 weltweit führenden Bike-Sharing-Städten der Welt 13 in China.
Kampf der Anbieter
Ganz oben steht das ostchinesische Hangzhou, wo die Stadt selbst mittlerweile 84'000 Räder auf die Strassen stellt, die am Tag fast 400'000-mal gefahren werden. Aber in Peking zum Beispiel benutzte die städtischen Velos kaum jemand: im Amt registrieren, Pfand einzahlen, Ausweis abholen, an feste Standorte zurückbringen – zu umständlich. Im Jahr 2014 hatte gerade mal jeder 70. Pekinger eines der städtischen Velos benutzt. Dann aber kamen die neuen Firmen, gegründet von Studenten, befeuert von Finanzinvestoren: allen voran die Platzhirsche Mobike und Ofo. Und mit einem Mal ist das Fahrrad wieder da. Über Nacht und überall. «Genial», sagt der Pekinger Maler Peng Lu. Jahrelang ist er nicht mehr Fahrrad gefahren. «Als sie mir vor ein paar Jahren das siebte oder achte Velo geklaut hatten, da hab ich es endgültig aufgegeben», sagt er. «Mir hat es gereicht. Aber jetzt? Kein Tag vergeht mehr, ohne dass ich auf dem Fahrrad sitze.»
Der wilde Osten. All der Genius und all der Wahnsinn des chinesischen Marktes sind hier zu bestaunen. Für die Kunden ist das Modell erst einmal grossartig: einfach die App herunterladen, anmelden, online eine Gebühr hinterlegen, Fahrrad per GPS oder einfach vor der Haustür finden, Code scannen, losfahren und am Ende das Rad hinstellen, wo man möchte. Dauert beim ersten Mal knapp fünf Minuten. Und ist spottbillig. Ein Yuan (14 Cent) pro Stunde. Theoretisch. In der Praxis verlangte Ofo erst einmal nur einen halben Yuan. Und zuletzt viele Wochen lang gar nichts mehr. Mobike auch nicht: Eine Promotion jagte die andere. Start-up-Irrsinn.
Einfach losfahren, und das Rad da hinstellen, wo man möchte.
Die Zahlen der Nutzer gingen innerhalb kürzester Zeit durch die Decke. Die der Fahrräder auch. Ofo zum Beispiel gibt an, heute 2,5 Millionen Velos und 30 Millionen registrierte Kunden zu haben, die alle ein Pfand von 99 Yuan, umgerechnet 14 Euro, hinterlegen müssen. Mit einem Mal prügeln sich mehr als zwanzig neugegründete Firmen um den Markt. Sie heissen Bluegogo, Xiaoming. Und sie alle lassen Fahrräder regnen. Allein von Dezember letzten Jahres bis März hat sich die Zahl der Leihräder verzwölffacht, das Verkehrsministerium zählte zuletzt 25 Millionen.
Und das soll erst der Anfang sein: Mobike allein verkündete soeben, man könne nun 10 Millionen Velos im Jahr herstellen. Und China allein ist ihnen jetzt schon nicht mehr gross genug: Die Ofo-Räder findet man schon im Testbetrieb in Singapur, Apple-Chef Tim Cook liess sich dabei fotografieren, wie er in San Diego auf eines der knallgelben Velos stieg. Und auch in Europa will Ofo Fuss fassen: Letzte Woche startete der Service im britischen Cambridge.
Paradiesische Zustände? Nicht ganz. Es laufen gerade ein paar Dinge aus dem Ruder. Von einem «barbarischen Anstieg» sprach bei einer Bike-Sharing-Konferenz letzte Woche in Peking ein Beamter der Shanghaier Stadtverwaltung, er nannte die Velos gar den «Schorf der Stadt», der Abgesandte aus Nanjing sprach von einer «Heuschreckenplage». Tatsächlich liefern sich die Firmen einen wilden Wettbewerb, und es sieht schwer nach Start-up-Blase aus. Mobike-Chef Wang Xiaofeng gestand öffentlich ein, wie mit den Rädern Profit zu machen sei, sei im Moment kein Thema: «Ich setze erst einmal darauf, dass wir weiter Geldgeber finden.»
Eine Firma verkündete, sie könne jährlich zehn Millionen Velos bauen.
Die beiden Platzhirsche Mobike und Ofo haben im vergangenen Jahr zusammen fast eine Milliarde Dollar gesammelt, Internetgigant Tencent ist bei Mobike dabei, der Fahrdienstvermittler Didi (Chinas Uber) bei Ofo. Geld, das gerade hemmungslos verbrannt wird auf der Jagd nach Kunden. So werfen die Firmen ihre Abermillionen von Fahrrädern im Moment einfach mal über den Städten ab, ohne sich Gedanken um Wartung oder Parkplätze zu machen. Als Fussgänger läuft man vielerorts Slalom oder gar Hürdenlauf, manche Trottoirs sind mit Hunderten von Velos zugestellt. Shanghai war die erste der Metropolen, die die Bremse zogen: Die Stadt zählt im Moment 450'000 der neuen Fahrräder. Nun sollen strenge Regeln gelten für Management und Wartung: Neue Velos müssen unter anderem GPS-Ortung eingebaut haben, jede Firma muss eine 24-Stunden-Hotline betreiben und die Velos jährlich auf Sicherheit testen.
Ein anderes Problem ist der Vandalismus. «Neulich musste ich sieben Fahrräder ausprobieren, bis ich eines fand, das ich fahren konnte», erzählt Liu Tianmiao, eine Lehrerin. Beim ersten hatte ein Nutzer zwei Ziffern vom Nummernschild abgekratzt, sodass kein anderer mehr die Nummer in die App eingeben konnte, um den Code zu erhalten. Das zweite hatte sich einer mit seinem privaten Schloss angekettet und so reserviert. Beim dritten war ein Reifen platt, beim vierten die Kette herausgesprungen, das fünfte hatte nur mehr ein Pedal. Und das sechste wurde («Der kommt gleich wieder») bewacht vom Angestellten eines Immobilienmaklers.
Die Jungen steigen auf
Manche Velos wurden offenbar geklaut und in die Dörfer ausserhalb Pekings geschafft, andere umlackiert und so privatisiert. Nicht wenige Beobachter allerdings vermuten die Konkurrenz hinter den erstaunlich vielen abgeschraubten Pedalen und zerkratzten ID-Codes. Der Wirtschaftsautor Wu Xiaobo rechnet mit einem baldigen Platzen der Blase, er schreibt, was als grosse Hoffnung begonnen habe, verwandle sich gerade in einen «grausamen Witz». Das allerdings wäre verdammt schade.
«Bei all dem Chaos haben die Leihfahrräder wieder den Blick auf unsere verfehlte Verkehrsplanung gelenkt», sagt Wang Zhongyu, Mitglied von Bike, einer jungen Fahrrad-NGO aus Guangzhou. «Die Leute sind zuletzt nicht mehr Fahrrad gefahren, weil sie sich nicht sicher fühlen in unseren velofeindlichen Städten.» Nun aber hat es gerade die Jungen wieder gepackt. Die Hälfte der Leihradnutzer ist weniger als 25 Jahre alt, neun von zehn sind noch keine 40. «Wenn der Irrsinn eines zeigt, dann doch: Die Leute haben auf so etwas bloss gewartet», sagt der Maler Peng Lu. «Ich offenbar auch. Und dabei wusste ich das vor einem halben Jahr noch gar nicht.»

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