«Momo» für Erwachsene am Schauspielhaus ZürichDie neue Momo hat einen Roboterhund
Alexander Giesche zeigt in der Schiffbauhalle den Klassiker Michael Endes als visuelles Gedicht.

Stellen Sie sich vor, ein Riese raucht eine Monsterzigarre und haucht einen überdimensionierten Rauchring nach dem anderen in Ihre Richtung. Die Ringe kommen durchs Dunkel geflogen, weiss, wabernd, filigran. Und manchmal, wenn einer Sie streift, spüren Sie den Luftstrom, ehe sich dieses Gespenst aus Nichts in nichts auflöst. Dazu läuft Nirvanas «In Bloom» – ein Lied über einen Typen, der gern mitsingt, aber nicht weiss, was der Song bedeutet. Wie wir in diesem Zauber aus Licht, Luft und Ton.
So geht Michael Endes grosser Kinderroman «Momo» (1973), wenn der kluge Bilderdichter Alexander Giesche ihn sich neu denkt, völlig frei anverwandelt. Der Regisseur nennt seine elektronifizierende Adaption in der Schiffbauhalle ein «Visual Poem» wie schon 2020 seine preisgekrönte Zürcher Arbeit «Der Mensch erscheint im Holozän» und 2021 «Afterhour»: Apokalypsen allesamt, aber mit Augenblicken von zerbrechlicher Schönheit.
Die berühren alle Sinne: Auf der Haut spürt das Publikum diesmal bisweilen den kalten Nebel; dann wieder zieht durch die Nase der Pancake-Duft vom ausgiebigen Frühstück auf der Bühne. Letzteres ist ein Reenactment der Probenarbeit, wie man aus dem Programmheft erfährt: Ausufernde Frühstücksessions mit ziel- und haltlosen Gesprächen im Team hätten am Anfang der Suche gestanden – als eine bewusst mäandernde Methode gegen den Druck der Zeit und die Zwänge des Betriebs.

Schliesslich hat «Momo» genau dies zum Thema: die ungesunde Jagd nach Zeitersparnis, bei der jede Menschlichkeit als Verschwendung unter den Tisch fallen muss. Auf den Tisch kommen hier, neben Pancake-Pfanne und Kaffee, neben Ladegerät und VR-Brille, die Spannungen zwischen Karin (Pfammatter), Max (Reichert), Thomas (Wodianka) und Thomas (Hauser) – der während der pausenlosen 160 Minuten nur als Kopf auf einem kleinen, fahrbaren Bildschirm mit von der Partie ist; als inkarnierte Distanz.
Scheinbar nah hingegen trappelt ein richtiger Roboterhund und falscher Seelentröster aufgeregt um die elektronisch aufgerüstete Tischgesellschaft herum. «Platz» macht er nur, wenn er mag. Zwischendurch gibt das staksige KI-Tier die geheimnisvolle Schildkröte von Meister Hora, dem Herrn über die Zeit: also immer dann, wenn Pfammatter als Momo durch die kleine Stadt zieht, die sich bald komplett in der Hand der Zeitdiebe befindet. Das sind bekanntlich die sogenannten grauen Herren, welche die gesparten Stunden der abgehetzten Menschen als Blumen sammeln, trocknen und – eben – rauchen.

«Stets hetzen» lautet die herzlose Logik des Neoliberalismus, der mit der Zeit auch Momos Freunde verfallen, Beppo Strassenkehrer (Reichert) und Gigi Fremdenführer (Wodianka). Zu Beginn dagegen war das Kleeblatt tief in ein klassisches Gschpürschmi-Spiel eingetaucht: so lang, dass die Zuschauenden mental schier zu Nicht-Zuschauenden geworden wären. Hier und anderswo hätte, ehrlich gesagt, eine gnädige Hand straffend eingreifen müssen, auch wenn die Qual Konzept ist.
Die blaue Drehbühne kreist, der Meeressound wird zum Wogen einer Autobahn, und auf der grossen Projektionswand hört und sieht man Fetzen von klimastreikenden Jugendlichen: ein vergeblicher Aufstand, der sich im Rauschen der Elektronik verliert (Komposition und Sounddesign: Ludwig Abraham).
Überhaupt die Elektronik: Für sie hat Giesche zusammen Anka Bernstetter einen regelrechten Orchestergraben gebaut. Wir sehen den Technikerinnen und Technikern beim Steuern der Aufführung zu; sie selbst sind gesteuerte Kleingötter nach dem Willen des Regisseurs. Und sie erinnern an jene Manager, die als Zwischenglied operieren zwischen dem Grosskapital und der digitalisierten Kontrolle der Arbeitsleistung des entmenschlichten Personals.

Das theoretische Drumherum dazu liefert – lediglich – das Programmheft. Giesche haut aus den aktuellen Reflexionen über Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Kapitalismus und dem gesellschaftskritischen Siebzigerjahre-Märchen sperrige Bilderbrocken – so wie sein Ensemble, in einer überaus langen Sequenz, über hundert Autoreifen auf die Drehscheibe wuchtet.
Aber während im nächtlichen Blau der Grabhügel aus Gummi wächst und unsere Augen einschlafen, wachen unsere Ohren auf. Nach Nirvana experimentiert Four Tet über unsere allzu menschliche Feigheit (»Only Human»), derweil der Robohund tanzt. Später poppt Francis and the Lights über den verführerischen Komfort von selbstfahrenden Autos, selbstfahrenden Leben.
Dann brennt die Stadt, und ticktack, ticktack macht die unbarmherzige Elektronik. Vom Bühnenhimmel schwingt ein Pendel, das aussieht wie eine gigantische Roboterschlange, bis die Zeit stehen bleibt. Auftritt von Retterin Momo – was freilich, wie so manches andere an diesem Abend, nur versteht, wer die Story kennt –, und Christine and the Queens singt «The Eyes of a Child».

Kurz: Giesches «Momo» ist eine Verneigung vor dem grössten Talent des Mädchens, das in den Ruinen eines Amphitheaters daheim ist – dem teilnehmenden Zuhören. Die Inszenierung ist gelebter, gewagter Widerstand gegen optimierte Zeitnutzung: ist ein blauer, nicht begradigter Fluss aus Traumfragmenten, Texteinsprengseln, theatralen Torheiten. Und manchmal fühlt sich das geradezu schmerzhaft langweilig an. Manchmal aber reisst er uns mit.
Fehler gefunden?Jetzt melden.