
Oben, an der Macht, herrscht fast sowjetische Stabilität. In der Zürcher Stadtregierung dominieren seit über 25 Jahren linksgrüne Politiker, deren Programm sich seit den 90ern kaum geändert hat.
Unten hingegen, in der Bevölkerung, hat gleichzeitig eine Revolution stattgefunden. Eine neue Art von Menschen hat die Stadt übernommen: die kreative, akademische Mittelklasse.
Im Gesellschaftsgefüge des Westens knarzt es gerade gewaltig. Spätestens der Brexit und die Wahl Donald Trumps haben das deutlich gemacht. Seither versuchen viele Bücher, diese Verschiebung zu erklären, zwei lesenswerte davon sind «The Sum of Small Things» von Elizabeth Currid-Halkett und «Die Gesellschaft der Singularitäten» von Andreas Reckwitz.
Beide kommen zum gleichen Schluss: Eine neue Klassengesellschaft hat sich heraushierachisiert. Die Befunde aus den USA und Deutschland passen bestens auf die Schweiz und Zürich.
Die Hippies sind mitschuldig
Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten Westeuropäer und Amerikaner in einer «nivellierten Mittelstandswelt» (Reckwitz). Alles war ab Band produziert, alles ähnelte sich, Ferien, Kleider, Essen, sogar die Menschen, die ja nicht auffallen wollten. Als Lohn für den Konformismus gewährten die Massengesellschaften soziale Gleichheit.
Es gab einen breiten Mittelstand, in den viele aufsteigen konnten. Egal, ob man studiert hatte oder nicht, gut bezahlte Arbeit fanden fast alle. Man zog aufs Land, den Städten liefen die Einwohner davon.
Ende der 70er-Jahre begann die Massengesellschaft auseinanderzubrechen. Viele Junge bekämpften das vorgestanzte Leben. Zudem schlossen Fabriken, Industriejobs verschwanden, kopflastigere Branchen entwickelten sich.
Der Kern der neuen Lebensweise besteht in einer permanenten Selbstverbesserung.
Dadurch hat sich eine neue Schicht gebildet, Reckwitz nennt sie «Akademikerklasse», Currid-Halkett «aspirational class» (übersetzt: Aufsteigerklasse). Ihre Angehörigen haben nicht unbedingt mehr Geld als die alte Mittelklasse. Sie heben sich anders ab, durch ihre Ausbildung, ihre speziellen Berufe, ihre ästhetische Lebensweise. Sie protzen mit «kulturellem und sozialem Kapital», wie es Soziologen sagen.
Der Kern der neuen Lebensweise besteht in einer permanenten Selbstverbesserung, das gilt für den Beruf wie fürs Privatleben. Ein anständiger Job reicht heute nicht mehr, um den Status zu halten. Man muss stetig an sich arbeiten, sein Profil schärfen. Ein solcher Lebensstil vereint romantische mit bürgerlichen Vorstellungen. Man verwirklicht sich selber und macht Geld damit.
Klassische Statussymbole lehnt die Akademikerklasse ab – es kann sie ja jeder kaufen.
Wohnen tut die neue Oberschicht am liebsten in Städten. Diese bieten Hochschulen, Jobs in der Kreativbranche, Gleichgesinnte, zeitgemässe Läden und Restaurants, viel Kultur.
Klassische Statussymbole wie teure Uhren lehnt die Akademikerklasse ab – es kann sie ja jeder kaufen. Ihre Zugehörigkeit betont sie mit einem Konsumverhalten, das Disziplin, Zeit und Wissen erfordert. Man isst gesund, achtet auf die Herkunft der Produkte, trainiert seinen Körper, liest die richtigen Bücher, lebt in einer retro eingerichteten Altbauwohnung. Man hat wohlerzogene und doch einzigartige Kinder, bildet sich fleissig weiter, verreist an spezielle Orte, kleidet sich zurückhaltend modisch.
Das klingt nach einer Aneinanderreihung von Hipster-Klischees. Um solche Beschreibungen zu bestätigen, reicht es allerdings, an einem Samstag durch die Kreise 3 und 4 zu schlendern.
In westlichen Grossstädten stellt die Akademikerklasse bald die Mehrheit. In Zürich etwa hat sich der Anteil der Gutausgebildeten seit dem Jahr 2002 von einem Drittel auf die Hälfte der Bevölkerung erhöht. Auch das Einkommen steigt stetig und steil. Für beides haben vor allem Zuzügerinnen und Zuzüger gesorgt, wie eine Auswertung von Statistik Stadt Zürich ergab.
Wer nicht bio isst, gilt als Umweltrüpel.
So übernimmt die Akademikerklasse ein Quartier nach dem anderen. Wie viele bisherige Bewohner durch die «Menschen mit hohem Sozialstatus» (so der statistische Fachausdruck) aus der Stadt gedrückt wurden, weiss niemand.
Mit viel Mitleid können die Verdrängten nicht rechnen. Laut Currid-Halkett und Reckwitz betrachtet die Akademikerklasse ihre Privilegien als selbst verdient («Ich habe ja studiert!»), dazu überhöht sie den eigenen Lebensstil moralisch. Beides bewirkt eine «kulturelle Entwertung» der anderen: Wer nicht bio isst, gilt als Umweltrüpel. Wer nicht an einer Hochschule war, wird als bildungsfern abgeschrieben. Wer auf dem Land wohnt, gehört zu den Abgehängten. Die Ballung der Akademikerklasse in den Städten vertieft den Graben. In direkter Nachbarschaft entwickeln sich gegensätzliche Lebenswelten.
Politisch zählt vor allem eins: Offenheit
Normalerweise bewirkt ein Austausch der Bevölkerung einen Austausch der Herrschenden. Nicht so in Zürich. Politisch ist es hier seltsam ruhig geblieben. Die Zuzüger haben die linksgrüne Regierung nicht gestürzt – obwohl man das aufgrund ihres Einkommens hätte erwarten können.
Politisch definiert sich die neue Klasse durch ihre Offenheit, wirtschaftlich sowie gesellschaftlich. Ihre Angehörigen sind rechte SPler, linke FDPler, liberale Grüne, Grünliberale. Sie mögen Parteien, die irgendwie locker und aufgeschlossen sind. Der zentrale politische Bruch entzweit laut Reckwitz nicht mehr Bürgerliche und Linke, sondern liberale und abschottende Parteien.
Dazu kommt, dass viele Zürcher Linke heute selber zur Akademikerklasse zählen und für diese Politik betreiben. So setzt sich der Stadtrat eifrig für die Kreativwirtschaft und die IT-Branche ein. Auch linksgrüne Stadtverschönerungen und Verkehrsberuhigungen kommen den wohlhabenden Neozürchern entgegen.
Das alles verhindert, dass die Bürgerlichen am 4. März die Macht erobern. Von der gegnerischen Mehrheit haben die Rechten jedoch wenig zu befürchten – zu stark ist diese beschäftigt mit der Vervollkommnung des eigenen Daseins.
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Die sozialen Klassen: Auswertung der letzten Bevölkerungsbefragung
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Die Revolution, die nichts ändert
Zürich geht es blendend: Das hat die Stadt vor allem ihren neuen Einwohnern zu verdanken – den Angehörigen der Akademikerklasse.