Die russische Geheimwaffe
Anna Chapman und zehn weitere Agenten haben für Russland mehr als zehn Jahre die USA ausspioniert. Und dabei nicht eine einzige geheime Information nach Moskau melden können. Die Spione sind tragisch gescheitert.
Sie huschte von Partys der High Society zu geheimen Spionagetreffen: Die 28-jährige Anna Chapman könnte aus einem Roman von Ian Fleming entsprungen sein und ist wohl die auffälligste der elf Personen des Spionagerings, der am Sonntag in den USA gesprengt wurde. Eine rothaarige junge Frau mit einem «Victoria's-Secrets-Körper», wie die «New York Post» schreibt. Vor dem Haftrichter erschien sie in Designerjeans. Der Richter beschrieb sie so: «Sie ist eine geübte Schwindlerin, eine hervorragende ausgebildete Agentin.» Die 28-Jährige hat in Russland Wirtschaft studiert und dann lange im Londoner Finanzdistrikt gearbeitet.
Als Spion muss man jeden Tag verleugnen, wer man wirklich ist. Das dürfte dem Rotschopf bei ihrem neuen Leben in den USA nicht allzu schwer gefallen sein: Sie betrieb in New York ein Immobiliengeschäft im Wert von zwei Millionen Dollar und lebte in einer Luxuswohnung unweit der Wall Street. An Anlässen der High Society war sie ein oft gesehener Gast. Sie ist geschieden und kinderlos. Auf ihrem Facebook-Profil gibt sie an, sie liebe Tequilla und Bloggen und zeigt sich in aufreizenden Porträtfotos. Alles nur Fassade.
Im gesellschaftlichen Leben von New York hat die «Femme Fatale» Erfolg gehabt. Als Agentin hat sie aber versagt. Sie bereitete sich darauf vor, das Land zu verlassen. Doch das FBI wusste von diesen Plänen – und hat am Wochenende zugeschlagen.
Als normale Bürger getarnt
Chapman wurde zusammen mit zehn weiteren russischen Spionen vom FBI am Sonntag verhaftet – in New Jersey, Virginia, Massachusetts und Yonkers. Der letzte Mann ging gestern in Zypern ins Netz, er habe seine Kollegen in den USA mit Finanzmitteln ausgestattet.
Die Agenten hätten seit den 1990er-Jahren für den russischen Geheimdienst SWR Geheimnisse auszuspähen versucht und sich dabei unter anderem als normale Bürger getarnt. Acht der elf Festgenommenen lebten als Paare zusammen, mehrere haben Kinder, die auf örtliche Schulen gehen. Unter den Beschuldigten befindet sich Vickey Pelaez, eine in Peru geborene Kolumnistin für die spanischsprachige Zeitung «El Diario/La Prensa». Die Agenten hatten den Auftrag, Kontakte zu Regierungsmitarbeitern und Forschern zu knüpfen.
Auch Richard und Cynthia Murphy verfolgten dieses Ziel. Sie wohnten als Paar in einem idyllischen Ort westlich von Manhattan. Die Nachbarn, die sahen, wie das Paar in Handschellen abgeführt wurde, konnten es kaum glauben. «Die können keine Spione gewesen sein», sagt die 15-jährige Jessie Gugig der «New York Times». «Schauen Sie doch nur, was die mit den Hortensien gemacht haben.» Gemäss dem FBI sei es ihr Auftrag gewesen, die Position der USA zur Abrüstung und zu Irans Atomprogramm zu erfahren.
Völlig gescheitert
Je mehr man über den Agentenring erfährt, desto klarer wird, was die Beschuldigten über all die Jahre ausspioniert haben: nichts. In Washington wurden unterdessen sogar Zweifel an der Bedeutung des Skandals geäussert, da keiner der elf Festgenommenen wegen Spionage angeklagt wurde.
Seit sieben Jahren war das FBI ihnen auf der Spur – und die Russen hatten nicht die leiseste Ahnung. Und in all diesen Jahren wurden sie nie dabei ertappt, wie sie streng geheime Informationen nach Moskau sendeten, wie die «New York Times» aus offiziellen Quellen weiss. Politische Gerüchte waren die einzigen Informationen, welche die Spione sammelten.
«Hier wurden elf Menschenleben verpfuscht», wie der Geheimdienstexperte Tim Weiner im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» sagt. «Ich vermute, dass sie völlig gescheitert sind. Um Amerika zu verstehen, hätten sie auch einfach die Zeitung lesen können.»
«Was haben die sich bloss gedacht? Der Aufwand solcher altmodischer Spionagetätigkeit steht in keinem Verhältnis zum Ertrag. Ich verstehe einfach nicht, was sie erwartet haben», sagt Richard F. Stolz, ein ehemaliger CIA-Mann gegenüber der «New York Times».
Wegen Spionage können die Agenten also nicht angeklagt werden, ihnen wird lediglich zur Last gelegt, sich nicht als Agenten für eine ausländische Macht beim Justizministerium registriert zu haben. Amerikanische Gesetze schreiben vor, dass sich jeder Lobbyist für eine ausländische Regierung anmelden muss. Die Höchststrafe für eine Unterlassung dieser Registrierung beträgt fünf Jahre Gefängnis, doch wird zehn der elf Angeklagten zusätzlich Geldwäsche zur Last gelegt. Ihnen drohen deshalb bis zu 25 Jahre Gefängnis.
Tölpelhafte Laien
Die Agenten hätten neben High-Tech-Methoden auch traditionelles Spionagehandwerk benützt, um untereinander und mit russischen Diplomaten zu kommunizieren oder Geld zu erhalten, heisst es in den Gerichtsdokumenten. Sie gingen dabei oft auch unglaublich dilettantisch und altmodisch vor. So beobachtete das FBI beispielsweise, wie der Angeklagte Christopher Metsos und ein Unbekannter auf einer Bahntreppe im New Yorker Stadtteil Queens «identische orangefarbene Taschen» austauschten.
Die Anklage beschreibt auch, wie sich Chapman mit ihrem Laptop in einen Barnes-&-Noble-Buchladen im West Village gesetzt habe. Ein «russischer Regierungsbeamter» habe sich derweil draussen positioniert, um über ein Wifi-Netzwerk Daten auszutauschen. Das FBI war mit einem Kastenwagen vor Ort und hat alles mitbekommen.
Weiter wurde mit unsichtbarer Tinte, vergrabenen Geldkoffern und gefälschten Pässen von Toten gearbeitet. Die Ermittler haben auf einem Zettel auch einen Entschlüsselungscode mit 27 Stellen gefunden.
Moskau verärgert
Es bleibt abzuwarten, ob die Spionage-Affäre eine erneute Abkühlung der Beziehungen zwischen Washington und Moskau zur Folge hat. Das russische Aussenministerium nennt die Festnahmen «unbegründet» und «zutiefst bedauerlich».
Trotzdem haben wohl beide Seiten derzeit kein Interesse daran, dass elf enttarnte Agenten mit einem Schlag die mühsame Entspannungspolitik der vergangenen Monate erledigen, wie die «Süddeutsche Zeitung» schreibt. Im Kommentar heisst es weiter: «Moskau macht auf Appeasement, es will das heruntergewirtschaftete Russland dringend modernisieren. Und dazu braucht es auch die Hilfe der USA und amerikanischer Investoren. Vieles spricht also dafür, dass die Aufregung sich nach einigen heissen Tagen schnell wieder abkühlt.»
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