Die Schweiz ringt um den besten EU-Deal
Der Bundesrat hat seine Verhandlungsstrategie mit der EU festgelegt. Die wichtigsten Antworten.
Was hat der Bundesrat entschieden?
Entschieden hat er nichts. Er hat zur Kenntnis genommen, und zwar die «technischen Fortschritte» in den Verhandlungen. Und er hat bestätigt, nämlich die roten Linien.
Doch was heisst das nun? An der Medienkonferenz, die Aussenminister Ignazio Cassis am Mittwoch gegeben hat, begleitet von Staatssekretär Roberto Balzaretti und Bundesratssprecher André Simonazzi, ist deutlich geworden, dass die flankierenden Massnahmen im Bundesrat ein wichtiges Thema waren. Nachdem Cassis vor einigen Tagen im Radiointerview laut darüber nachgedacht hatte, ob sich die Schweiz beim Lohnschutz gegenüber der EU vielleicht flexibel zeigen könnte, brach in Gewerkschaftskreisen ein Sturm der Entrüstung aus.
Nun beruhigte der Aussenminister: Die «FlaM» seien für den Bundesrat eine rote Linie. Trotzdem werde man nun mit den Kantonen und Sozialpartnern das Delta eruieren. Also schauen, wie gross die Differenzen der Lohnschutzmassnahmen der EU und der Schweiz wirklich sind. Das Aussen-, das Wirtschafts- und das Justizdepartement werden mit dieser Aufgabe betraut.
«Die Gegenseite muss sehen, wie die Schweiz über diese Themen diskutiert.»
Cassis sagte: «Nach der technischen Phase muss es nun im Sommer eine innenpolitische Phase geben.» Die innenpolitische Diskussion müsse nun «richtig» stattfinden. «Die Gegenseite muss sehen, wie die Schweiz über diese Themen diskutiert.» Die Gespräche mit Kantonen und Sozialpartnern haben also auch einen taktischen Hintergrund, sie gehören zur kommunikativen Strategie des Bundesrats.
Weiter sagt Cassis, dass sich bei der Frage der Streitbeilegung durch ein Schiedsgericht eine Lösung abzeichne und dass auch die Unionsbürgerschaft eine rote Linie sei, welche die Schweiz nicht will.
Wie geht es jetzt weiter?
Erst einmal gehe der Staatssekretär in die Sommerferien, sagte Cassis. Dann hat Roberto Balzaretti den Auftrag, weiterzuverhandeln. Anfang September wird sich der Bundesrat die Sache erneut anschauen.
Was sind die grössten Streitpunkte beim bilateralen Rahmenabkommen?
Flankierende Massnahmen: Die Gesetze, die dem Erhalt der Schweizer Löhne dienen, sind der EU-Kommission ein Dorn im Auge. Denn wegen dieser Gesetze werden EU-Firmen, die in der Schweiz Aufträge ausführen, kontrolliert, und sie müssen Spezialauflagen erfüllen. Die flankierenden Massnahmen wurden parallel zu den bilateralen Verträgen aufgegleist und sind an diese geknüpft. Sie waren aber eine reine innenpolitische Massnahme. Die EU möchte, dass die Schweiz diese Gesetze abschafft beziehungsweise jenen der EU angleicht und dass sie Teil des institutionellen Rahmenabkommens werden. So können sie im Streitfall vom Schiedsgericht oder vom EU-Gericht beurteilt werden.
Streitbeilegung: Die EU will, dass bei Uneinigkeit ein Gericht entscheidet, und sie schlug den EU-Gerichtshof als Institution vor, der Bundesrat wollte das nicht. Weil die «fremden Richter» vom Volk wohl abgelehnt würden. Hier zeichnet sich aber eine Lösung ab: ein Schiedsgericht, bestehend aus einem Schweizer und einem EU-Vertreter sowie einem Dritten. Dieses würde die meisten Streitfälle bearbeiten.
Staatliche Beihilfen: Der Staat gibt gewissen Firmen Vorteile. Beispielsweise Steuervergünstigungen oder Garantien (wie die Kantone den Kantonalbanken). Die EU will, dass die Schweiz das strengere Beihilfenrecht der EU übernimmt. In der Schweiz befürchtet man eine Beschneidung der kantonalen Steuerhoheit.
Wie gut ist Staatssekretär Roberto Balzaretti bis jetzt?
Der Tessiner ist Anfang Jahr vom Bundesrat zum neuen EU-Mann ernannt worden, zum Staatssekretär für europäische Angelegenheiten. Anfang März mandatierte die Regierung ihn, mit der EU über ein institutionelles Abkommen zu verhandeln. Ein Abkommen, das die laufende Übernahme von neuem EU-Recht regelt sowie das Vorgehen bei Uneinigkeit.
Der Bundesrat ist heute einiger und entschlossener.
Der neue Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) hat mit dieser Personalie seiner EU-Politik gleich zu Beginn den Stempel aufgedrückt. Bis jetzt mit einigem Erfolg in kurzer Zeit. Allerdings kommt Balzaretti nicht nur seine langjährige EU-Erfahrung zugute, sondern auch die Umstände sprechen für ihn. Der Bundesrat ist heute einiger und entschlossener als zu Zeiten seiner Vorgängerin Pascale Baeriswyl. Ihr damaliger Mentor Didier Burkhalter schien in der EU-Politik zunehmend orientierungslos, bis er schliesslich entnervt aufgab.
Warum braucht es überhaupt ein Rahmenabkommen?
Seit Abschluss der Bilateralen um die Jahrtausendwende hat sich das EU-Recht stark entwickelt. Die EU hat der Schweiz deshalb 2008 mitgeteilt, dass es so nicht weitergehe. Zwar übernimmt die Schweiz heute schon einen grossen Teil des neuen EU-Rechts automatisch. Aber erstens nicht alles, zweitens fehlt eine Gerichtsbarkeit in Streitfällen. Heute kann die EU keinen Rechtsweg beschreiten, wenn sie das Vorgehen der Schweiz ablehnt.
Warum muss es so schnell gehen?
Schnell ist relativ. Seit 2014 verhandelt die Schweiz mit der EU über das Abkommen, damals noch unter Staatssekretär Yves Rossier. Der EU ist nun einfach der Geduldsfaden gerissen, das hat sie die Schweiz letzten Winter mit der nur befristeten Anerkennung der Schweizer Börsenregulierung spüren lassen.
Im Wahlkampf lassen sich sachpolitisch kaum mehr vernünftige Lösungen finden.
Die Zeit drängt auch deshalb, weil 2019 ein Wahljahr ist. Im Mai wird das europäische Parlament neu bestellt, im Oktober das schweizerische Parlament. Im Wahlkampf, das wissen alle, lassen sich sachpolitisch kaum mehr vernünftige Lösungen finden. Die Stimmung ist dann sehr aufgeheizt, und insbesondere der Bilateralismus Schweiz - EU steht unter besonderer Beobachtung, weil damit Themen wie Migration, Löhne et cetera verbunden sind. Der Bundesrat will deshalb noch diesen Herbst die Verhandlungen abschliessen.
Warum dauern diese Verhandlungen so lange?
Der innenpolitische Widerstand gegen neue Abkommen ist gross. Das hat auch mit dem Wohlstand zu tun. Die Schweiz hat eine tiefe Arbeitslosigkeit, hohe Löhne und gute Sozialleistungen. Freihandel mit dem Ausland bringt zwar zusätzlichen Wohlstand, aber auch mehr Wettbewerb, etwa im Arbeitsmarkt.
Die Herausforderung ist es, einen Vertrag abzuschliessen, der eine Volksabstimmung übersteht.
Die SVP hat das Thema für sich entdeckt, sie ist dank der EU gross geworden, nachdem Christoph Blocher Anfang der Neunzigerjahre den EWR-Beitritt in einem beispiellosen Abstimmungskampf praktisch im Alleingang verhindert hatte. Mittlerweile ist die Bevölkerung noch skeptischer geworden, neue Verträge haben es schwer. Deshalb tut sich auch der Bundesrat schwer mit dem Dossier. Seine Herausforderung ist es, einen Vertrag abzuschliessen, der eine Volksabstimmung übersteht. Dass ein neues Abkommen von links und rechts kritisiert werden wird, ist so gut wie sicher.
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