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Seit der Basler Judaist und Literaturwissenschaftler Alfred Bodenheimer Krimis schreibt, werden auch seine historischen Thesen zum Judentum mehr beachtet.

Alfred Bodenheimer pendelt zwischen der Schweiz und Israel. In Jerusalem wohnt seit fünf Jahren seine Familie. In Basel ist der 52-Jährige Professor für jüdische Religionsgeschichte und Literatur. 2010 wurde er als erster Jude Dekan einer theologischen Fakultät in der Schweiz. 2014 wechselte der Literaturwissenschaftler die Seite: Jedes Jahr schreibt er seither einen Kriminalroman. Heute ist er als Krimiautor bekannter denn als Professor. Was ihn nicht stört. So würden auch seine historischen Reflexionen zum Judentum mehr beachtet, schmunzelt der Mann, der sich als «modern orthodox» bezeichnet.
Das eine ist mit dem anderen verschränkt. Gleichsam als Nebeneffekt schildern seine Krimis die Welt der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, zu der er 15 Jahre lang gehörte. Er wolle ein authentisches Bild des Judentums zeichnen, sagt Bodenheimer. Das Wichtigste aber sei der möglichst spannende Plot.
Minderheiten akzeptieren
Protagonist im neuen Krimi «Ihr sollt den Fremden lieben» ist erneut Gabriel Klein, Detektiv wider Willen. Der liberal denkende Rabbiner bekommt es mit religiösen Fundamentalisten zu tun, mit «clashes of civilisation», die mitten durch Familien gehen. Etwa durch jene der Türkin Nilüfer, deren Vater und Brüder einer Clankultur samt Ehrenmord und Rache anhängen. Oder jener von Lejser Morgenroth, dem schwulen Sohn der ultraorthodoxen Talmudkoryphäe Elchanan Morgenroth. Dieser ist Vater von zwölf Kindern, Gelehrter an einer privaten Talmudschule und repräsentiert das ultraorthodoxe Judentum in Zürich.
Eine Parallelgesellschaft? Bodenheimer findet den Begriff deplatziert, weil auch die gesellschaftlich abgeschnittenen orthodoxen Juden an einem funktionierenden Staat interessiert seien und sich diesem zu Loyalität verpflichtet fühlten. Eher sei dort das Ideal «einer heilen und heiligen Welt» lebendig. Wie aber können Juden in europäischen Staaten strikt orthodox leben, wo sie doch ihre Anerkennung und Gleichstellung dem liberalen, säkularen Geist und nicht den religiös-konservativen Kräften verdanken? Bodenheimer entgegnet, es sei Aufgabe des liberalen Staats, Leute und Minderheiten jeder Schattierung zu akzeptieren, solange sich diese nicht gegen den Staat richteten.
Der Judaist hat 2012 die «Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich» herausgegeben aus Anlass ihres 150-Jahr-Jubiläums. Letztes Jahr feierten die Schweizer Juden 150 Jahre Gleichberechtigung, weil ihnen 1866 die revidierte Bundesverfassung die freie Niederlassung zugestanden hatte. Für Historiker Josef Lang war das Jubiläum falsch angesetzt. Das Schlüsseldatum der Judenemanzipation sei 1874, als mit der Totalrevision der Verfassung den Juden das Recht der freien Religionsausübung gewährt wurde. Und so der säkulare den christlichen Staat abgelöst habe.
Damit ist Bodenheimer zwar einverstanden, er hält aber das säkulare europäische Konzept für stark christlich geprägt und gegenüber Minderheitsreligionen für vorurteilsbeladen. Tendenziell halte es Religion für eine Privatsache. Für Juden aber sei Religion extrem gemeinschaftlich geprägt. Gerade die Beschneidungsdebatte zeige, dass der säkulare Staat Dinge beargwöhne, weil diese religiös firmiert seien. Die Juden hätten darauf vertraut, dass «säkular» heisse, es sei den Leuten egal, wie die Juden ihre Religion ausübten. Doch wollten ihnen Verfechter des Kindeswohls die Beschneidung verbieten. «Majoritäten setzen ihre Agenda auch für alle anderen.»
Wieder zu Fremden geworden
In seinem Büchlein «Haut ab!» verweist Bodenheimer auf die alte christliche Tradition, die zu wissen meint, was für Juden richtig sei. «Luther hat das auch gewusst. Wenn die Juden dem nicht Folge leisten, verdienen sie keine Barmherzigkeit, dann darf man ihre Synagogen abbrennen.» Das Urteil des Landgerichts Köln gegen die Beschneidung von 2012 steht für Bodenheimer in einer Reihe mit dieser Bevormundungspolitik, die die christliche Sicht auf das Judentum über Jahrhunderte geprägt hat.
Wenn immer möglich, meidet der Judaist das belastete Wort «Antisemitismus». In vielen europäischen Ländern habe die muslimische Bevölkerung zweifellos mehr Probleme mit Juden als die christliche. Der Professor beklagt, was er «restrangement», «Wiederfremdwerden» nennt: «Juden waren in Europa als Minderheit wohlgelitten, sind aber durch andere Minderheiten, die viel Aufmerksamkeit bekommen, wieder zu Fremden geworden.» Das zeige sich bei den zunächst muslimischen Debatten über Beschneidung, Schächten oder religiöse Feiertage. Stets dienten die Juden in diesen Diskursen als Manövriermasse.
Bodenheimer würde gern ein Buch über den Umgang der verschiedenen europäischen Länder mit religiösen Minderheiten schreiben. Doch zuerst wird Rabbi Klein neue Fälle aufklären. Der nächste Krimi liegt in der Schublade des Literaturwissenschaftlers.
Alfred Bodenheimer: Ihr sollt den Fremden lieben. Rabbi Kleins vierter Fall. Nagel und Kimche. München 2017. Ca. 29 Fr., 192 S.
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