«Die Situation ist zunehmend ausgeartet»
Freier Internetzugang, bis zu 2000 Franken Monatsgehalt und keine Ganzkörpervisitationen: Ein ehemaliger Wärter von La Pâquerette erzählt, welche Freiheiten die Häftlinge in der Anstalt hatten.
Der gestern präsentierte Untersuchungsbericht zum Fall Adeline verdeutlicht, dass die Genfer Behörden versagt haben. Die Strafvollzugsbehörde und die dem Gefängnis Champ Dollon angegliederte Abteilung La Pâquerette haben sich zahlreiche Versäumnisse zuschulden kommen lassen. Dass die geltenden Vorschriften in letzterer nicht allzu streng genommen wurden, erzählt nun auch ein ehemaliger Wärter. Gegenüber der Zeitung «Le Matin» (Artikel online nicht verfügbar) sagt er: «Die Arbeit war nicht einfach. Man muss nahe an den Gefangenen sein, aber gleichzeitig eine professionelle Distanz wahren.» In den Jahren, in denen er in der Anstalt tätig gewesen sei, sei die Situation zunehmend «ausgeartet». Die geltende Ordnung in der Institution sei ausser Kraft gesetzt worden.
Sinnbildlich dafür sei die für die Gefangenen verwendete Terminologie gewesen: «Wir durften das Wort Häftlinge nicht verwenden, sondern mussten sie Bewohner nennen.» Besonders Häftling M. habe einen starken Einfluss auf die Gefängnisdirektorin Véronique Merlini gehabt. Er habe es den anderen Gefangenen ermöglicht, freien Internetzugang zu erhalten. Die Wächter hätten diesen Schritt abgelehnt, weil sie ihn für zu gefährlich gehalten hätten. Doch nach der Intervention M.'s sei es plötzlich möglich gewesen, im Büro der Direktorin im Internet zu surfen. Unter der Aufsicht eines Sozialtherapeuten hätten die Häftlinge beliebige Seiten besuchen dürfen, jedoch auf Nachfrage genaue Angaben zum Inhalt der Websites machen müssen. Dabei habe es auch Schlupflöcher gegeben: So habe ihm ein Häftling beispielsweise einmal gezeigt, wie einfach es sei, hinter einem geöffneten Bild eine Nachricht zu entschlüsseln.
Bis zu 2000 Franken monatlich verdient
Gerade der Fall Adeline zeigt, dass offenbar die Regel mit dem Nachfragen nach konkreten Inhalten nicht eingehalten wurde: Keiner der Angestellten konnte sich im Nachhinein daran erinnern, dass der spätere Mörder Fabrice Anthamatten Websites zum Messerkauf oder Google Maps besucht hätte, um seine Flucht zu planen. Da er schnell in Richtung Polen floh, ist jedoch anzunehmen, dass er die Flucht von langer Hand geplant hatte.
Der anonyme Ex-Wärter erzählt weiter, wie es den Insassen von La Pâquerette möglich gewesen sei, Geld zu verdienen. Der informatikaffine M. beispielsweise habe für 30 Franken pro Stunde Computerkurse gegeben. Damit habe er monatlich bis zu 2000 Franken verdient. Auch die Leibesvisitation sei Schritt für Schritt aufgegeben worden: Ebenfalls M. habe reklamiert, dass es unwürdig sei, sich im Besucherzimmer ganz ausziehen zu müssen. Daraufhin sei die Leibesvisitation in zwei Teile gegliedert worden: zuerst der Oberkörper, danach der Unterkörper. Die Unterwäsche musste gar nicht mehr ausgezogen werden.
Bezüglich der Freigänge habe es die Regelung gegeben, dass die Sozialtherapeuten eine Begleitung ablehnen durften. Normalerweise wurden sie eine Woche zuvor angekündigt, damit eine andere Lösung gefunden werden konnte. Doch in Adelines Fall war das nicht so: Sie wurde am Morgen darüber informiert, dass sie auf 11 Uhr mit Anthamatten in die Reittherapie gehen müsse.
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