
«Das Wichtigste in meinem politischen Leben waren Begegnungen.» Menschen – und die Politik, die nötig war, um ihnen zu helfen, haben Marieluise Beck stets angetrieben. Anfang der 90er-Jahre veränderte der Balkankrieg ihr Leben. Sie reiste 1993 auf eigene Faust nach Bosnien und erlebte die Gräuel hautnah mit. Das löste in ihrem Kopf eine «180-Grad-Drehung» aus, wie sie später sagte – der Pazifismus ihrer grünen Partei und der gesamten deutschen Linken kam ihr auf einmal unerträglich und unhaltbar vor.
Beck rief zwei Hilfswerke ins Leben – «Frauen helfen Frauen» und «Brücke der Hoffnung» – und begann, für eine militärische Intervention Deutschlands auf dem Balkan zu werben, um die Opfer vor Aggressionen zu schützen. Die Abgeordnete war mit ihrer Meinung damals im Bundestag nahezu allein, nicht nur in ihrer eigenen Partei. Erst das Massaker von Srebrenica 1995 liess die deutsche Politik umdenken.
Ende des Jahrzehnts intervenierte Deutschland unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer in Kosovo erstmals militärisch, um einen Völkermord zu verhindern. Es war Beck gewesen, die die Wende geistig und politisch vorbereitet hatte. Sie blieb Osteuropa danach treu, engagierte sich unermüdlich für Menschen- und Bürgerrechtler in Weissrussland, Russland und der Ukraine und kritisierte deren Machthaber. Mindestens zweimal wurde ihre Internetpräsenz in den letzten Jahren vom russischen Geheimdienst gehackt – eine Art Ritterschlag für eine entschlossene Gegnerin.
Eine «gewisse Einsamkeit»
Wenn Marieluise Beck nun nach drei Jahrzehnten Bundespolitik ihr Berliner Bundestagsbüro Unter den Linden aufgibt und ihr Abgeordnetenmandat niederlegt, fühlt es sich für sie wegen dieser Menschen «manchmal wie Fahnenflucht» an: «Die Menschenrechtler können nicht verstehen, dass ein Amt in einem Parlament einmal ausläuft. Sie fürchten, ich lasse sie jetzt im Stich.» Das tue sie aber nicht, im Gegenteil. Mit gleichgesinnten Politikern baut sie in Berlin das «Zentrum liberale Moderne» auf, in dem sie ihre Arbeit weiterführt. Besonders freut sie, dass sich Politiker aus allen Parteien engagieren.
Wer die 65-Jährige in ihrem Büro besucht, begegnet einer beeindruckenden Frau: gross und schön, in elegantem grünem Kleid, mit markanten, an die Künstlerin Meret Oppenheim erinnernden Gesichtszügen, kurzen, grauen Haaren. Die Mutter von zwei Töchtern wirkt unerschrocken, hartnäckig und herzlich zugleich. Ihre Rede verrät profundes Wissen und scharfen Intellekt – gleichwohl geht etwas Fröhliches von ihr aus. Es gibt nicht wenige Fotos von ihr, auf denen sie schallend lacht.
Trotz ihrer Talente und ihres Renommees ist sie eine der vielen langjährigen Parlamentarierinnen, die nie ein hohes Amt innehatten. «Ich müsste schwindeln, wenn ich behaupten würde, es hätte mich nicht begeistert, Aussen- oder Sozialministerin zu werden.» Allerdings hätte sie sich in diesen Ämtern mehr anpassen müssen, als sie es gewohnt war. In der rot-grünen Regierung arbeitete sie zwischen 1998 und 2005 als Beauftragte der Regierung für Ausländerfragen, später zusätzlich noch als Staatssekretärin im Familienministerium. Beide Posten passten gut zu ihr, weil sie Gedanken- und Handlungsfreiheit voraussetzen und weniger Rücksicht auf Kabinetts- und Parteidisziplin verlangten als das Amt einer Ministerin.
Marieluise Beck war in der Politik immer eine Solitärin, der die Freiheit wichtig war, auch ihre eigene, und die den Dingen nachging, die ihr nötig schienen. Eine Folge davon war eine «gewisse Einsamkeit», über die sie offen spricht. Ihr habe die Zeit gefehlt, im Bundestag Beziehungen zu pflegen. Sie sei schon froh gewesen, dass es ihr gelungen sei, die Familie zusammenzuhalten und mit ihrem Ehemann Ralf Fücks zusammenzubleiben, dem grünen Vordenker und langjährigen Leiter der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung. Eine therapeutische Begleitung, heute würde man es Supervision nennen, habe ihr seit ihren Anfängen als Berufspolitikerin geholfen, das Gleichgewicht zu halten.
Ihre Rede verrät profundes Wissen und scharfen Intellekt – gleichwohl geht etwas Fröhliches von ihr aus.
Aus dem Bundestag scheidet sie nicht ganz freiwillig aus. Schon vor vier Jahren gelang es ihr nur noch mit Mühe, auf der Landesliste ihrer Bremer Grünen einen sicheren Listenplatz zu belegen. Diesmal hätte sie gegen eine starke innerparteiliche Konkurrentin antreten müssen. Den sehr linken Grünen in Bremen war Beck politisch schon lange «zu schwarz», als Aussenpolitikerin kümmerte sie sich wenig um die Themen, welche die Parteigänger vor Ort bewegten. Also verzichtete sie auf eine erneute Kandidatur. Als sie im Sommer in der Bremer Kulturkirche ihren 65. Geburtstag und ihren Abschied aus der Bundespolitik feierte, hielten Prominente aus der Ukraine und Russland die Reden, Alexei Botwinow spielte am Klavier. Ihre Bremer Grünen glänzten vornehmlich durch Abwesenheit.
Mit Bedauern, aber ohne zu klagen, stellt Beck fest, dass Abgeordnete heute tagein, tagaus ihren lokalen Wahlkreis pflegen müssten, um die Karriere zu sichern. Nach einer erschöpfenden Bundestagswoche würden sie heimfahren und dort von Ortskreis zu Ortskreis, von Verein zu Verein, von Fest zu Fest tingeln, Zehntausende Kilometer im Jahr: «Und glauben Sie mir, das ist keineswegs immer vergnügungssteuerpflichtig.» Gleichzeitig gibt sie zu, dass dieser Zwang auch Vorteile habe. «Im Vergleich zu anderen nationalen Parlamenten sind unsere Abgeordneten in der Regel weniger abgehoben und näher an den Sorgen der Bürger, die sie vertreten.»
Was hat in den letzten drei Jahrzehnten die Politik am meisten verändert? «Das Tempo», sagt Beck, ohne zu zögern. Früher seien Unterlagen in braunen Briefumschlägen nach Hause gekommen, wo sie auch einmal ein paar Tage liegen geblieben seien, wenn die Kinder mit Bronchitis im Bett lagen. Das sei heute, am Gängelband von E-Mail, SMS und Handy, undenkbar geworden. Besser sei die Politik durch die ewige Eile nicht geworden. Die eitle Kommunikation in eigener Sache habe überhandgenommen, der Informationsmüll generell. «Der Betrieb fühlt sich an wie eine Waschmaschine, in die man zu viel Pulver gekippt hat.» Wem es an Zeit fehle, zu lesen und nachzudenken, der könne auch keine kluge Politik verfolgen. «Aber wer liest heute noch ein Buch? Wer vertieft, statt zuzuspitzen?» Marieluise Beck bestimmt.
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Die Solitärin
Marieluise Beck gehörte 1983 zur ersten Bundestagsfraktion der Grünen. Als Osteuropa-Expertin, die über die Parteigrenzen hinweg geschätzt wird, tritt sie nun ab.