Die Sprint-Staffel wird WM-SiebteStimmt nicht jedes Detail, ist ein Spitzenplatz illusorisch
Ausser Mujinga Kambundji bringt keine im Schweizer Staffelteam die erwartete Leistung. Nach dem Rückschlag bleiben bis zur EM drei Wochen zur Korrektur.

Es war eine grosse und gleichzeitig bittere Stunde gewesen: An den Olympischen Spielen vor einem Jahr vergoss die Schweizer Sprintstaffel angeführt von Mujinga Kambundji und Ajla Del Ponte Tränen – über eine verpasste Medaille. Seit der Lancierung eines Staffelprojekts waren erst zehn Jahre vergangen und die Schweiz von null bis in den Olymp vorgedrungen. Tatsächlich schrammten sie in Tokio nur ganz knapp am dritten Platz vorbei und verschafften sich mit dieser Superleistung in der Öffentlichkeit viel Respekt. An der WM in Eugene nun, ein Jahr später, war die Ausgangslage eine ganz andere – und deshalb auch das Resultat.
«Anchorwoman» ist natürlich Kambundji geblieben, die in Tokio schnell war, inzwischen aber noch schneller geworden ist. Nach ihren sechs Einsätzen in sechs Tagen mit einem 5. Platz im Sprintfinal über 100 m und einem 8. Platz über 200 m verschrieb ihr Staffelcoach Adi Rothenbühler einen Ruhetag. Zur physischen Müdigkeit kam die emotionale, solche Erfolge hinterlassen nicht nur körperlich Spuren. Also startete die Schweiz erstmals überhaupt ohne ihre Leaderin in einem Vorlauf und musste in 42,73 Sekunden mit dem achten und letzten Platz vorliebnehmen. Das bedeutete für den Final: Bahn 1 und die enge Kurve.
Diese Ausgangslage war nicht a priori schlecht. Doch die Schweizerinnen vermochten aus ihrer zweiten Chance im Final – nun mit Kambundji auf der zweiten Position – nicht mehr herauszuholen als im Vorlauf. Im Gegenteil. In 42,81 waren sie noch um einige Hundertstel langsamer und wurden enttäuschende und enttäuschte Siebte. Die Amerikanerinnen sprinteten in 41,14 überraschend zu Gold – überraschend deshalb, weil für die Jamaikanerinnen die 100- und 200-m-Weltmeisterinnen Jackson und Fraser-Pryce sowie Olympiasiegerin Thompson-Herah starteten. Prominenter besetzt geht kaum, doch auch sie hatten alle das gleiche Programm wie Kambundji in den Beinen. Es blieb Silber.
Die Deutschen wieder vor der Schweiz
Und ja, Bronze erkämpfte sich in 42,03 Deutschland – mit einer Zeit, die nur zwei Hundertstel unter dem Schweizer Rekord liegt und im Idealfall auch von den Schweizerinnen hätte erreicht werden können. Mit Gina Lückenkemper hatte nur gerade eine Deutsche den 100-m-Halbfinal erreicht (13.) und gar keine jenen über 200 m – dafür jubelte Deutschland nun über seine erste Medaille an dieser WM überhaupt.
Die Deutschen waren in den vergangenen Jahren immer so etwas wie der Orientierungspunkt in der Staffellandschaft gewesen. Bis sich die Schweiz im letzten Sommer in Tokio und auch schon an der letzten WM in Doha 2019 an ihnen vorbeischob und jeweils Vierte wurde. Jetzt also der kleine Rückschlag – und die Cleverness der Deutschen, die im Final ihre Chance nutzten, als sich Dina Asher-Smith verletzte und die Britinnen vom dritten noch auf den sechsten Platz zurückfielen.
Für Ajla Del Ponte brach eine kleinere Welt zusammen – im vergangenen Jahr in 10,90 die Rekordhalterin und jetzt unter «ferner sprinteten».
Die Schweizerinnen waren mit einem an sich hervorragenden Diamond-League-Resultat in die USA gereist. Beim letzten Meeting vor der WM, in Stockholm, waren sie mit 42,13 und der neuen Startläuferin Géraldine Frey um nur acht Hundertstel über dem Schweizer Rekord geblieben. Es war ein ermutigendes Zeichen, vor allem, was den Formstand Del Pontes betraf. Sie schien nach einer hartnäckigen Verletzung im Gesässbereich und vielen verpassten Trainingswochen doch noch in Form gekommen zu sein. Doch diese schmale «schwedische» Basis erhielt schon nach dem 100-m-Vorlauf in Eugene einen markanten Riss: Del Ponte schied in 11,41 sang- und klanglos aus, und Rothenbühler sah sich vor einem gröberen Problem.
Für die Tessinerin brach nach einer fast makellosen letzten Saison eine kleinere Welt zusammen – im vergangenen Jahr mit 10,90 Sekunden über 100 m die nationale Rekordhalterin, und jetzt unter «ferner sprinteten» klassiert. War das eine mentale Blockade oder ein physisches Defizit? Letzteres verneinte Del Pontes Trainer Laurent Meuwly, sie hätten «top trainiert» vor Beginn der WM. Doch nun waren die Zweifel da, und die galt es innert einer Woche wegzudiskutieren, um mit ihr trotzdem eine starke Schlussläuferin zu haben. Das klappte nur bedingt. Ihr verhaltener Start im Vorlauf zeugt davon und trug auch nicht zu einem besseren Gesamtresultat bei.

Nur: Im Final klappte es nicht besser. Ein grober Wechselfehler zwischen Salomé Kora und ihr, die ihren Part nun aggressiver anging, kostete mehrere Zehntel, Del Ponte musste noch einmal abbremsen. Da nützte auch ein glänzender Lauf Kambundjis auf der Gegengeraden wenig, die im Vergleich zu Sarah Atcho, die in der Qualifikation auf dieser Position gelaufen war, vier Zehntel schneller war.
Die Erkenntnis scheint einfach und ist doch so schwierig umzusetzen: Die Schweiz hat derzeit im Sprint eine so breite Spitze wie noch nie, doch sie kann sich an einer WM oder an Olympischen Spielen nur dann Chancen auf einen Platz ganz vorne ausrechnen, wenn sie über mindestens zwei gesunde und sich in Höchstform befindende Sprinterinnen vom Format Kambundji und Del Ponte verfügt. Wie in Tokio. Dazu müssen die Wechsel perfekt gelingen und die Starterin schneller sein als Frey am Samstagabend. Es muss also ganz vieles stimmen, damit der Erfolg seinen Weg findet.
An der EM ohnehin ohne Kambundji im Vorlauf
Rothenbühler hat auch im Hinblick auf die EM in drei Wochen in München im Vorlauf auf Kambundji verzichtet. Dort verhindert der Zeitplan, dass die Bernerin alle Einzel- und Staffeleinsätze leisten kann. «Sie ist sowieso nicht dabei, es muss uns also bis dann gelingen, diese Umstellungen hinzukriegen», sagt er. Entgegen kommt ihm und seiner Crew, dass an der EM die Marge in der Qualifikation grösser ist. Soll das Sprint-Staffelprojekt aber auch künftig auf soliden (und erfolgreichen) Beinen stehen, ist er ohnehin gezwungen, jüngere Athletinnen einzubeziehen. Mit Natacha Kouni war neben Frey eine zweite Aufsteigerin der Saison in Eugene dabei. Sie hat erste Erfahrungen im Staffelteam gesammelt. Vielleicht kann sie an der EM eine der Fragen beantworten.
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