Die Überalterung macht der IV zu schaffen
Die IV-Stelle Zürich meldet einen deutlichen Anstieg der Neurenten. Als Gründe nennt sie die demografische Entwicklung und das Bevölkerungswachstum.

Ein Jahrzehnt lang zeigte die Kurve bei der Invalidenversicherung (IV) nur nach unten. Dank einer verschärften Rentenpraxis und Eingliederungen gelang es der IV, die Zahl der jährlich neu zugesprochenen Renten von 2003 bis 2012 zu halbieren und danach zu stabilisieren. Doch möglicherweise findet der für die finanzielle Sanierung der IV positive Abwärtstrend nun ein Ende: Die grösste IV-Stelle der Schweiz, jene des Kantons Zürich, macht im Jahresbericht 2016 eine «eigentliche Trendwende» aus. Erstmals sprach die IV-Stelle wieder deutlich mehr neue Renten zu. Die Zunahme gegenüber 2015 betrug stattliche zehn Prozent. 2639 Personen bekamen im Kanton Zürich im letzten Jahr einen positiven Rentenbescheid der IV, 2015 waren es 2407 gewesen.
Infografik: Bis 2030 muss die IV ihre Schulden zurückzahlen

Die Gründe für die Trendwende lassen aufhorchen. Neben der steigenden Einwohnerzahl nennt die IV-Stelle die demografische Entwicklung. Da sich mit dem Alter das Risiko einer Erkrankung erhöhe, führe die zunehmende Zahl älterer Arbeitnehmer zu mehr Rentenfällen, sagt Daniela Aloisi, Kommunikationsleiterin der Sozialversicherungsanstalt Zürich. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Neurenten ist die geänderte Praxis des Bundesgerichts bei den Schleudertrauma- und Schmerzpatienten. Laut dem Urteil vom Juni 2015 muss bei den Betroffenen der Rentenanspruch wieder individuell geprüft werden, nachdem zuvor während über zehn Jahren bei diesen Diagnosen konsequent keine Renten mehr erteilt worden sind.
Die IV-Stelle Zürich prüfte im letzten Jahr 400 Rentenfälle von Schmerz- und Schleudertraumapatienten. Wie viele davon eine Rente erhielten, sei noch nicht ausgewertet worden, sagt Aloisi. Die IV-Stelle geht aber davon aus, dass die geänderte Bundesgerichtspraxis zum Anstieg der Neurenten beitrug.
5 Prozent mehr Renten in Bern
Ebenfalls leicht nach oben zeigt die Neurentenkurve der IV-Stelle Bern. Zwar spricht die IV des zweitgrössten Kantons von einer stabilen Situation, doch seit 2013 stieg die Zahl der Neurenten jedes Jahr leicht an. 2016 betrug die Zunahme knapp 5 Prozent, seit 2013 insgesamt fast 17 Prozent. Für das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ist es trotzdem zu früh, um von einer Trendwende zu sprechen. Eine solche könne erst nach mehreren Jahren rückblickend identifiziert werden.
Je früher die IV bei Gesundheitsproblemen eingreifen kann, desto besser sind die Chancen auf den Arbeitsplatzerhalt.
Die IV hat ihre Bemühungen zur beruflichen Eingliederung in den letzten Jahren massiv verstärkt und sieht sich nicht mehr als Renten-, sondern als Eingliederungsversicherung. Dies zeigt sich in der jährlich steigenden Zahl von Personen, die sich bei der IV anmelden, um Unterstützung zum Erhalt des Arbeitsplatzes zu bekommen oder zur Prüfung der Rentenberechtigung.
In Zürich wurden 2016 über 13'000 Neuanmeldungen registriert. Auch Bern verzeichnet einen markanten Anstieg. «Die steigenden IV-Erstanmeldungen sind mit Blick auf den Arbeitsplatzerhalt absolut gewünscht», sagt Daniela Aloisi. Je früher die IV bei Gesundheitsproblemen eingreifen kann, desto besser sind die Chancen auf den Arbeitsplatzerhalt. Doch die vielen Anmeldungen haben auch eine Kehrseite: Sie führen zu mehr Rentenfällen, wenn die Eingliederung nicht gelingt. «Statistisch gesehen ist es klar, dass dies die Zahl der Neurenten beeinflusst», sagt Aloisi. Die IV-Stelle Zürich bewilligte letztes Jahr 12'000 Eingliederungsmassnahmen. 2614-mal sei die Eingliederung geglückt.
Aufwind für Sparpolitik
Das Bundesamt für Sozialversicherungen wird die gesamtschweizerische IV-Statistik Mitte Mai präsentieren. Dann wird sich zeigen, ob die Gesamtzahl der IV-Rentner weiterhin rückläufig ist. Bisher verloren jeweils mehr Menschen jährlich ihre Berechtigung auf eine IV-Rente, als neue Rentner dazukamen. Sollte sich die Trendwende von Zürich gesamtschweizerisch bestätigen und in den nächsten Jahren fortsetzen, kommt dies für die IV zu einem heiklen Moment. Denn Ende 2017 läuft die IV-Zusatzfinanzierung durch die Mehrwertsteuer aus, womit die IV jährliche Einnahmen von 1,1 Milliarden Franken verliert. Die Finanzprognosen des BSV gehen davon aus, dass die IV auch ohne dieses Geld ab 2018 schwarze Zahlen schreibt und bis 2030 ihre Schulden beim AHV-Fonds tilgen kann. Ende 2016 stand die IV bei der AHV noch mit 11,4 Milliarden in der Kreide.
Die «Trendwende» in Zürich wird jene bürgerlichen Sozialpolitiker bestärken, die die BSV-Prognosen für zu optimistisch halten und Sparmassnahmen fordern. Gelegenheit dazu bietet die IV-Revision, die der Bundesrat im Februar ans Parlament schickte. Gesundheitsminister Alain Berset will die Arbeitsintegration von jungen Erwachsenen mit gesundheitlichen Einschränkungen und von psychisch Kranken verbessern. Direkte Sparmassnahmen sieht der Bundesrat nicht vor. Doch Sozialpolitiker von SVP, FDP und CVP wollen, dass die Revision zu unmittelbaren Einsparungen führt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch