«Die Ukraine ist ein widerstandsfähiges Land»
Josef Stalins Hungerkrieg gegen die Ukraine kostete Millionen Menschenleben. Das prägt das Land und sein Verhältnis zu Russland bis heute, sagt die Historikerin Anne Applebaum.

Frau Applebaum, auf Ihre Bücher«Der Gulag» und «Der Eiserne Vorhang» folgt jetzt «Roter Hunger», bei dem es um Stalins Hungerkrieg gegen die Ukraine geht. Warum war es Ihnen wichtig, ein drittes Mal über den Stalinismus zu schreiben?
Das ist ein weiterer Versuch, den Stalinismus und seine verheerenden Auswirkungen zu verstehen. Stalins Hungerkrieg gegen die Ukraine ist ein besonders wichtiges Beispiel für eine Katastrophe, bei der Menschen ihre Nachbarn töten. Die Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933 war nicht das Resultat von Missernte oder schlechtem Wetter. Vielmehr wurde sie von Josef Stalin gezielt herbeigeführt, um gegen die Ukraine vorzugehen. Der sogenannte Holodomor ist ein zentraler Moment in der ukrainischen Geschichte, seine Hinterlassenschaft wirkt bis heute nach. Das ist entscheidend, um die aktuellen politischen Vorgänge in der Ukraine zu verstehen sowie das schwierige Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland.
Sprechen wir zunächst über die Ukraine der frühen 30er-Jahre. Warum war es für Stalin wichtig, gegen die Ukraine vorzugehen?
Stalin hatte Angst, die Ukraine zu verlieren. In der Ukraine gab es eine bedeutende nationalistische Bewegung. Zudem war der Widerstand der Bauern gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft weitverbreitet. All dies hatte Stalin schon Jahre zuvor persönlich erfahren, zunächst als Volkskommissar für Nationalitätenfragen nach der Russischen Revolution und danach als politischer Kommissar im Bürgerkrieg. Die Ukraine empfand Stalin als Bedrohung für seine Macht und für den sowjetischen Staat.
Die Bolschewiken kollektivierten die Landwirtschaft, enteigneten die Bauern. Welche Rolle spielte das für die Hungersnot?
Das Chaos der Kollektivierung trug zwar zu den Umständen bei, die zur Hungersnot führten. Die Zahl von knapp vier Millionen Toten folgte aber nicht direkt aus der Kollektivierung. Der Hunger war das Ergebnis von staatlichen Beschlüssen.
Welche Verbrechen müssen Stalin angelastet werden?
Insbesondere die gewaltsamen Lebensmittelbeschlagnahmungen. Zudem waren Verkauf und Tauschhandel verboten. Strassensperren hinderten die Menschen daran, Nahrung oder Arbeit zu suchen. Der Getreide-Export aus der Ukraine ins Ausland wurde nicht gestoppt oder wenigstens gedrosselt. Anders als bei der Hungersnot von 1921 bat die Sowjetunion die internationale Gemeinschaft nicht um Hilfe. Stalin war hauptverantwortlich für die Verschärfung der Hungersnot. Diese ging so weit, dass es zu Kannibalismus kam. Die Hungersnot ist aber nur ein Teil dieser Tragödie.
Das heisst?
Während auf dem Land die Bauern starben, ging Stalins Geheimpolizei gegen die intellektuellen und politischen Eliten der Ukraine vor. Es gab Hinrichtungen, Deportationen und Schauprozesse. Stalins Ziel war die Zerstörung des ukrainischen Nationalbewusstseins und die Sowjetisierung der Ukraine. Die ukrainische Sprache wurde unterdrückt und ukrainische Geschichte nicht mehr gelehrt. In der UdSSR wurde der Holodomor totgeschwiegen – das ist im heutigen Russland nicht anders. Aber in der Ukraine überlebte im Privaten und im Verborgenen die Erinnerung an diese Katastrophe, und sie wurde von einer Generation an die andere weitererzählt.
Der Holodomor hatte tief greifende Folgen für Demografie, Psychologie und Politik der Ukraine. Was bedeutet das für die heutige Ukraine?
Es gibt ein weitverbreitetes Misstrauen gegenüber dem Staat, schwache nationale Institutionen und eine korrupte politische Klasse. Wer keine Verantwortung als Staatsbürger fühlt, hat wenig Interesse, gegen Korruption zu kämpfen. Viele politische Mängel gehen auf die Ereignisse von 1932/33 zurück. Damals wurde der Staat etwas, das man fürchtete und dem man mit Skepsis begegnete. Politiker und Bürokraten sah man in der Ukraine nie als wohlwollende Diener des Gemeinwesens an.
Die jüngste Präsidentenwahl war ein deutliches Misstrauensvotum gegen die politische Klasse. Mit Wolodimir Selenski ist ein Komiker ohne jede politische Erfahrung neuer Staatschef der Ukraine. Kann das gut gehen?
Niemand weiss, wie Selenski als Präsident sein wird. Meine Freunde in Kiew haben gemischte Gefühle. Die einen sind sehr skeptisch und zeigen sich besorgt, die anderen hoffen, dass es schon irgendwie gut kommen werde mit ihm. Vielleicht kann die Fiktion Hinweise auf die künftige Realität liefern. Die TV-Serie, in der Selenski vom Geschichtslehrer zum Staatspräsidenten wird, transportiert eine Reihe von Werten, die ihn attraktiv für viele Wähler gemacht haben. Der TV-Selenski steht für Demokratie, den Kampf gegen Korruption und für einen Staat, der den einfachen Menschen dienen soll. Ob Selenski wirklich selber an diese Werte glaubt, wissen wir allerdings nicht.
«Die Ukraine war eineBedrohung für Stalin.Für Putin ist sie es ebenso. Das demokratische Beispiel könnte anstecken.»
Eine zentrale Herausforderung für Selenski ist der Konflikt mit Russland. Nur wenige Tage nach der Präsidentenwahl in der Ukraine kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, dass Ostukrainer leichter einen russischen Pass erhalten sollen. War dies nur ein Test für Selenski oder Teil der hybriden Kriegsführung Russlands?
Putin hat dasselbe schon einmal gemacht – im Konflikt mit Georgien. Der Kreml hatte zunächst russische Pässe in den abtrünnigen Gebieten Georgiens verteilen lassen. Schliesslich schickte er im Jahr 2008 Truppen dorthin – unter dem Vorwand, russische Staatsbürger zu schützen. Klar, in den selbst ernannten Volksrepubliken der Separatisten hat es bereits russische Soldaten und Waffen. Russland bestreitet aber die militärische Unterstützung der Separatisten und die verdeckte Kontrolle über deren Gebiete. Putins jüngstes Passdekret für die Ostukrainer könnte nun ein Schritt dahin sein, auch offen die Kontrolle über die separatistischen Gebiete zu übernehmen. Ganz bestimmt war die Ankündigung von Putin der Versuch, Selenski zu testen.
Selenski antwortete auf neckische Weise. Die Ukraine sei bereit, Menschen aller Länder einzubürgern, die unter autoritären und korrupten Regimes litten. Dieses Angebot sei vor allem für Bürger Russlands gedacht.
Die Reaktion Selenskis war aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens schrieb er seine Antwort auf Russisch und Ukrainisch. Zweitens richtete er sich nicht an Putin, sondern an die Russen. Selenskis Botschaft war auch: Wer will schon einen russischen Pass, wenn der ukrainische Pass besser ist, weil dieser mehr Möglichkeiten bietet? Tatsächlich orientieren sich immer mehr Ukrainer nach dem Westen und der EU. Allein in Polen leben und arbeiten derzeit mehr als eine Million Ukrainer.
Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine waren Russlands Strafaktionen dafür, dass die Ukrainer 2014 ihre prorussische Regierung gestürzt hatten und sich nach Westen ausrichteten. Welche Parallelen gibt es zwischen der Anti-Ukraine-Politikvon Stalin und von Putin?
So wie die Ukraine für Stalin eine Bedrohung war, ist sie es auch für Putin. Eine westlich orientierte, demokratische Ukraine könnte auch für viele Russen attraktiv werden. Davor hat Putin Angst. Russen und Ukrainer stehen sich kulturell nahe, viele sind familiär miteinander verbunden, sie kennen einander sehr gut. Wenn die Ukraine zu europäisch würde, könnten Russen die Frage stellen: Warum wir nicht?
Das Minsk-II-Abkommen von 2015 sollte die Ostukraine befrieden, es funktioniert aber bis heute nicht. Es gibt weiterhin Gefechte mit Toten und Verletzten. Wie beurteilen Sie die Chancen für einen Frieden im Donbass?
Das hängt von Putin ab. Die Ukraine führt einen Verteidigungskrieg. Für Russland gibt es zwei gegensätzliche Szenarien: Rückzug aus den Separatistengebieten oder deren Annexion. Ich vermute, dass Putin zunächst eine Eskalation mit dem Westen sucht. Das macht er immer, wenn seine Beliebtheitswerte in der Bevölkerung sinken. Putin ist in erster Linie an sich selber interessiert. Und er will so lange wie möglich an der Macht bleiben. Wenn man das verstanden hat, lässt sich Putins Verhalten leicht erklären. Putin hat viele Menschen töten lassen und hat viel Geld gestohlen. Sollte er die Macht verlieren, besteht für ihn die Gefahr, zur Verantwortung gezogen zu werden.
Sie sagen, dass Putin eine Strategie der Spannungen mit dem Westen verfolgen wird. Woran denken Sie?
Das können Provokationen sein, die ein weiteres Mal die Ukraine betreffen oder auch das Baltikum. Wobei ich davon ausgehe, dass Putin im Moment kein Interesse an einer offenen Konfrontation mit der Nato hat.
In der Ukraine gibt es offenbar Kreise, die der Ansicht sind, dass das Land auf die Separatistengebiete von Donezk und Luhansk verzichten könnte, weil es sich um Problemregionen handelt.
Es gibt Leute, die dieser Meinung sind. Der Wiederaufbau in diesen Regionen wäre sehr teuer und die Reintegration vieler Menschen, die dort leben, sehr schwierig. Donezk gilt auch nicht als Kernland der Ukraine. Es gibt allerdings ein Argument dagegen, dass die Ukraine auf die Separatistengebiete verzichtet: Wenn wir Russland das geben, was wollen sie danach? Dieses Argument macht Sinn.
Wie hat sich die Ukraine seit dem Euromaidan und dem Krieg gegen Russland verändert?
Die Ukraine ist ein sehr widerstandsfähiges Land. Die Ukrainer sind gut darin, gemeinsam Projekte anzupacken und zivilgesellschaftliche Einrichtungen aufzubauen. Die Revolution von 2014 erlebten viele Menschen als Wiedergeburt ihrer Nation. Der Krieg hat die verschiedenen Regionen der Ukraine zusammenrücken lassen. Immer mehr Menschen sprechen lieber Ukrainisch als Russisch. Viele Leute sehen sich als Europäer. Die Ukraine ist eine offene Demokratie. Die Menschen haben keine Angst, ihre Meinung zu sagen. So entfernt sich die Ukraine Jahr für Jahr von Russland und wird anders.
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