
Im März 1917 war der Erste Weltkrieg im dritten Kriegsjahr. Die Schweiz stand zwar ausserhalb, die Versorgung mit Lebensmitteln war aber auch bei uns prekär. Dazu kam die politische Unruhe: Es herrschte Angst. Angst vor der Revolution, vor dem kommunistischen Umsturz.
In diesem Umfeld formierte sich in jenem März eine neue Partei: die Zürcher Bauernpartei. Die Gründung war ein Doppelmanifest: Sie zeugte einerseits von der Entfremdung zwischen Bauern und Freisinn – lange besass der Freisinn in den reformierten Gebieten den Gewohnheits-Support der Bauern. Doch zusehends weckte die konsumenten- und industriefreundliche Politik der Freisinnigen bei den Bauern Missfallen – und das Bedürfnis nach einer eigenen politischen Stimme. Andererseits verstanden sich die Landwirte als Stosstrupp gegen die «zertrümmernden Wahnideen der Sozialisten» – als konservative, antisozialistische und antielitäre Kraft.
Wir gegen die anderen. Wir gegen die linken Vaterlandsfeinde sowie die Anpasser und Weichlinge dieser Welt: Das war – in den Worten von Blocher-Biograf Markus Somm – die DNA der neuen Partei, die anlässlich der Kantonsratswahlen von 1917 (Zürich wählte erstmals nach dem Proporzsystem) aus dem Stand 49 von 257 Sitzen holte. Was damals Zürcher Bauernpartei hiess, heisst heute Zürcher SVP – und feiert am Sonntag im Zürcher Kongresshaus den 100. Geburtstag.
Im freisinnigen Schatten
Mit rund 30 Prozent Wähleranteil ist die SVP heute die stärkste Partei im Kanton. Längst ist sie im Zentrum der Macht angekommen. Trotzdem hält sie an ihrem Selbstbild fest, eine Aussenseiterpartei zu sein, vom Establishment ausgegrenzt und ausgelacht.
Kein Wunder: Das Lonely-Cowboy-Selbstverständnis ist nicht nur mentale Grundkonstitution, sondern auch Erfolgsrezept der Partei. Warum dieses Rezept der Zürcher SVP zu Macht und Grösse verholfen hat, zeigt der Seitenblick auf die Berner SVP. Letztere, während Jahrzehnten die Antipodin der Zürcher, entstand ein Jahr später, 1918, wobei sie sich nicht Bauernpartei nannte, sondern Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB). Zwar übernahmen später auch die Zürcher diesen Namen, faktisch blieben die Zürcher aber eine Partei des Bauernstands, währenddem sich in Bern Bauern, Gewerbe und städtische Konservative aus dem Bernburger-Milieu vereinten.
Die Breite der Partei sowie der Umstand, dass der Typ des reichen Grossbauern in Bern viel verbreiteter war als in Zürich und die Landwirtschaft in Bern generell mehr Prestige besass, führten dazu, dass die Berner BGB rasch zur staatstragenden Partei wurde – zur Partei des Establishments, welche die kantonale Politik beliebig dominierte. Der Berner Freisinn schrumpfte derweil auf das Format einer bürgerlichen Nebenpartei.
Anders in Zürich: Hier war und blieb der Freisinn das Machtzentrum – er war das Biotop von Gewerblern, Grossbürgern, Intellektuellen, Industriellen oder Bankiers. Die Bauernpartei war der Junior im Schatten, von der FDP-Elite nicht wirklich ernst genommen.
Konservativ? Ein Unwort!
Dann geschahen zwei Dinge. Erstens führten die Umbrüche von 1968 dazu, dass sich der politische Zeitgeist grundlegend änderte. Wobei die Veränderungen weniger die Links-rechts-Achse als das Verhältnis zwischen konservativem und progressivem Pol betrafen. Der neue Zeitgeist hatte es mit sich gebracht, dass «konservativ» zum politischen Unwort geworden war. Parteien, die mit der Zeit gehen wollten, mieden es fortan. Gefragt war ein modernes Image, Frauenanliegen, ökologische Forderungen stiessen plötzlich auf Resonanz. Namentlich staatstragende Grossparteien wie die Zürcher FDP oder die Berner BGB (beziehungsweise, ab 1971: SVP) glaubten, sich dem Zeitgeist nicht verschliessen zu dürfen.
In dieser Ära – und damit zu Ereignis Nummer zwei – brauchte die Zürcher SVP einen neuen Präsidenten. Auch diese Wahl stand im Zeichen des Zeitgeists. Der eine Kandidat wollte die Partei zur Mitte öffnen. Der andere wollte sie im Geist ihres konservativen Erbes führen. Letzterer hiess Christoph Blocher. Und er gewann. Blocher setzte darauf, dass zu jedem Zeitgeist ein Anti-Zeitgeist gehört – und folglich Wähler, die das Gegenteil des Mainstreams wollten. Auf diese Wähler zielte Blocher. Und er zielte richtig.
«Blocher baute die Zürcher SVP von der Milieu- zur Weltanschauungspartei um», bilanziert Politgeograf Michael Hermann. Die Basis war nicht mehr der Bauernstand, sondern der konservative Geist, wobei dieser mit viel traditionell-bäuerlichem Zierwerk geschmückt wurde. Als bekennende konservative Partei hatte die Zürcher SVP einen Exklusivstatus. Sie war anders als die andern. Das begünstigte das rasante Wachstum.
Dass Blochers Kalkül aufging, war aber auch Glück. Glück, weil ihm die Zeit in die Hände spielte. Nicht nur, dass die Angriffe der 68er auf die Mythen der Vorfahren – ob Tell oder Rütli, ob Reduit oder Guisan – eine stattliche Zahl an Verwundeten zurückliessen, die verzweifelt nach Fürsprechern suchten. Die SVP übernahm diese Rolle, stand ein für Tradition und Nationalmythologie. Und wurde dafür mit Wählerstimmen belohnt.
Hinzu kam: Ein halbes Jahrhundert lang hatte die nationale Elite den Sonderfall zelebriert. Im Pathos der Geistigen Landesverteidigung priesen sie die Schweiz als etwas Singuläres und Einmaliges. Bis 1989 war das Sonderfall-Selbstverständnis quasi nationaler Konsens. Dann fiel die Berliner Mauer, der Bundesrat forcierte die Europapolitik – und die Sonderfall-Rhetorik galt plötzlich als antiquiert. Die moderne Schweiz sollte gemäss bundesrätlichem Gusto nicht mehr anders sein als die andern, sondern gleich: Mitglied des EWR, der UNO und am liebsten auch der EU.
Auch dieser Kurswechsel hinterliess Verletzte. Blocher wurde zu ihrem Samariter. Und die SVP, namentlich die Zürcher SVP, zum geschützten Ort, wo die alten Überzeugungen weiter galten. Dass wir anders und besser sind.
Geld und Marketing
Wir gegen die andern. Wir gegen die Vaterlandsfeinde, welche die Schweiz an Europa verkaufen wollen: Die neue Konstellation passte ideal ins bewährte SVP-Selbstbild. Und der Konservativismus, von Blocher und seiner Zürcher SVP exklusiv und mit so modernen wie provokativen Marketingmethoden bewirtschaftet, war die perfekte Ideologie dazu. Dass die Partei dank ihrer Leader über enorme finanzielle Mittel verfügte, um diese Ideologie innerhalb, mehr und mehr aber auch ausserhalb Zürichs zu verbreiten, trug natürlich zur SVP-Erfolgsstory bei.
Das vorläufige Ende der Geschichte: Die SVP funktioniert heute vom Genfer- bis zum Bodensee nach den Prinzipien von Blochers Zürcher SVP – und ist so zur landesweit stärksten politischen Kraft geworden.
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Die Wir-gegen-alle-anderen-Partei
Die Zürcher SVP feiert am Sonntag ihr 100-Jahr-Jubiläum. Keine andere Schweizer Kantonalpartei vermochte eine so starke Wirkung zu entfalten – weit über den Kanton hinaus.