Duell in Pantanis Schatten
Dumoulin gewinnt in Oropa wie 1999 der Italiener, Quintana denkt auch an das Double Giro-Tour.

Die Tafel steht 8,7 Kilometer vor dem Ziel beim Santuario di Oropa, einer Wallfahrtskirche. Eine unübliche Distanz, aber um die geht es auch nicht. Sondern um den Vorfall, der sich an dieser Stelle ereignete, 18 Jahre ist das mittlerweile her. Der Giro kletterte ebenfalls hoch nach Oropa, Titelverteidiger Marco Pantani fuhr schon wieder in Rosa. Doch an dieser Stelle, der Endkampf war bereits entbrannt, sprang dem Italiener die Kette raus.
Er musste absteigen, sie wieder einhängen, wohl 30 Sekunden verlor er. Und jetzt? Aufgeben? Pantani setzte sich wieder auf sein Rad und startete eine unvergleichliche Aufholjagd: Erst mithilfe seiner Teamkollegen, am Schluss alleine, überholte er bis zum Ziel alle 49 Gegner, die noch vor ihm lagen, kam als Erster oben an. Die Maglia rosa hatte es allen gezeigt.
Rückstand wie einst Pantani wettgemacht
Insofern wiederholte sich gestern einiges. Abermals lag der Gesamtführende lange Zeit zurück, machte den Rückstand dann wett und kam zuoberst als Sieger an. Tom Dumoulin gewann seine zweite Etappe an diesem Giro d'Italia und baute damit seine Gesamtführung aus. Nur 30 Sekunden mehr brauchte er als einst der begnadete Bergfahrer.
An Vergleichen mit Pantani wird der Holländer aber kaum interessiert sein: Der berühmte Glatzkopf beendete das Rennen 1999 nicht, wurde als Renndominator vor der letzten Bergetappe wegen eines zu hohen Hämatokritwerts ausgeschlossen.
So sehr es die Radfans lieben, in der Geschichte ihres Sports zu schwelgen: Die heutigen Protagonisten konzentrieren sich auf das Hier und Jetzt, das alleine ist anspruchsvoll genug. Gerade jetzt wieder, an diesem 100. Giro d'Italia. Vor zwei Wochen trat eine fast schon unübersichtlich grosse Zahl von Fahrern mit Podest- und Siegambitionen an. Wirklich offen scheint nach 14 Etappen aber nur noch der dritte Platz auf dem Podium.
Kein Show off wie im Boxen
Beim Kampf um den Gesamtsieg erlebt der Radsport wieder einmal eines dieser faszinierenden Duelle zwischen zwei Fahrern mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen. Um zu zeigen, wie offensichtlich diese sind, müsste man Tom Dumoulin, den Träger der Maglia rosa, und Nairo Quintana, den Topfavoriten, nur einmal nebeneinander stellen. Quintana müsste seinen Kopf deutlich in den Nacken legen, wollte er seinem Gegner in die Augen blicken, ist er doch 19 Zentimeter kleiner (167 Zentimeter gegenüber 186).
Radfahrer sind aber keine Boxer, sie machen kein «Show off» vor ihren Duellen. Die besten Rundfahrer treffen erst auf der Strasse aufeinander, am Berg, wenn das Tempo so hoch ist, dass nur noch die Allerbesten mithalten können.
Dann wird die Grösse irrelevant, zählt ein anderes Körpermass viel stärker: das Gewicht. Dort hat Quintana deutliche Vorteile: 58 Kilogramm wiegt er laut offiziellen Angaben, ist damit 11 Kilogramm leichter als Dumoulin. Führen Sie sich das vor Augen: ein Rucksack, gefüllt mit 11 Kilo-Packungen Zucker.
Einzig Chris Froome mochte bisher Quintana leicht distanzieren
Und trotzdem liegen die Vorteile beim Schwereren. Wobei der einzig in seiner Welt als schwer eingestuft wird. Einen Athleten von 69 Kilogramm kann man schwerlich als schwer bezeichnen.
Erst recht, wenn er klettert wie Dumoulin. Der muss hinauf nach Oropa zwar Quintana zwischenzeitlich ziehen lassen, aber der kommt nie richtig weg, wird wieder eingeholt – und auf den letzten Metern auch noch leicht distanziert. Etwas, das bislang einzig Chris Froome an der Tour de France gelang.
Die Steigung nach Oropa kommt Dumoulin auch entgegen, sie ist nicht sonderlich steil, der Zeitfahrspezialist kann einen steten Rhythmus durchziehen. Dass er aber nicht nur mit Quintana mithält, sondern diesen angreift, ist bemerkenswert und spricht für sein Selbstvertrauen. Er weiss aber, dass der Sieg noch fern ist: «Wir haben nicht einmal die Hälfte aller Steigungen bewältigt. Aber ja, wir sind in einer guten Position jetzt.» Dumoulins Zurückhaltung kommt auch aus seiner Erfahrung: 2015 war er an der Vuelta der Überraschungsmann, erst in der vorletzten Etappe brach er ein und verlor das Rennen noch.
Quintana blickt schon über das Ziel in Mailand hinaus
Darauf dürfte auch Quintana hoffen und optimistisch vorwärtsblicken, trotz 2:47 Minuten Rückstand. Das mag sich nach viel anhören. Ist aber auf jeder der kommenden Bergetappen bald verloren, wenn die Krise erst mal kommt.
Fragt sich nur noch, ob Quintana auch die Form hat, um Dumoulin zum Äussersten zu bringen, sprich in die Krise zu fahren. Während der Holländer nur bis Mailand denkt, geht der Plan seines Rivalen bis Ende Juli, bis zur Tour. Er versucht sich am Double Giro-Tour, entsprechend defensiver musste er seinen Formaufbau planen.
Damit schliesst sich auch der Kreis in dieser Geschichte. Als Letztem gelang dieses Double: Marco Pantani. Ob der Vergleich ein guter wäre, bleibe ebenfalls dahingestellt. 1998 war das, im Jahr des Festina-Skandals an der Tour de France, als Pantani die beiden grössten Rundfahrten gewann. Mit welchen Mitteln, bleibt dahingestellt.
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Das «Brotmesser »der Schlusswoche
Beim Betrachten der Schlusswoche des 100. Giro d'Italia wünscht man sich ein Brot mit krachender Kruste. Zwar bietet Italien unendlich viele kulinarische Köstlichkeiten. Doch für Brotkrusten ist das Land nicht gerade bekannt. Trotzdem hat das «Brotmesser» seine Daseinsberechtigung – zwischen Anführungs- und Schlusszeichen. Als «Brotmesser» wird das Profil eines bergigen Radrennens bezeichnet, wo der Weg stets rauf oder runter führt – wie eben an diesem Jubiläums-Giro.

Die grössten Zacken folgen gleich am Dienstag nach dem Ruhetag. Es ist die Königsetappe mit drei grossen Anstiegen. Der Mortirolo gehört zu den fiesesten Übergängen Italiens und ist eine Herausforderung, auch wenn dieses Mal nicht die schwerste Strasse hinauf gewählt wurde. Danach folgt der Stelviopass, mit 2758 Metern über Meer der zweithöchste Pass der Alpen. Die beiden Übergänge würden die Etappe bereits zu einem der ganz grossen Brocken machen. Aber danach führt die Strecke hinunter in die Schweiz, ins Münstertal, von wo der Weg nach Bormio über den Umbrailpass führt, was weitere 1600 Höhenmeter bedeutet. Wer auf den 18 Kilometern auf Schweizer Boden eine Krise einfängt, verliert nicht Sekunden, sondern Minuten.

Tags darauf folgt mit einem frühen Tonale etwas Ruhe für die Gesamtklassementsfahrer, vor der nächsten Herausforderung am Donnerstag. Das Dolomitenteilstück ist das Kondensat einer Bergetappe. Nur 137 Kilometer lang, aber mit fünf Steigungen vollgepackt.
Und es hört und hört nicht auf. Am Freitag und Samstag stehen weitere Bergankünfte an, die letzte mit dem Monte Grappa als Vorspann. Erst am Sonntag wird es noch einmal flach, aber nicht leicht: Auf den 30 Kilometern vom Autodromo in Monza nach Mailand kann noch einmal viel geschehen. (ebi.)
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