
Ist Altruismus nicht eigentlich eine verkappte Form von Egoismus?
R. K. Lieber Herr K.
Nein. – Ich reagiere recht allergisch auf solche Enthüllungsfloskeln, dass irgendein Y im Grunde genommen bloss sein Gegenteil X ist. Ich will versuchen, Ihnen plausibel zu machen, warum diese Allergie aber nicht bloss eine persönliche Marotte ist, sondern gute Argumente auf ihrer Seite hat.
Die letzten dreissig Jahre waren und sind geprägt durch einen Vulgär-Neodarwinismus, der vorgab, auch noch die letzten Mysterien der Menschheit (warum Frauen schlechter einparkieren als Männer oder eben auch Phänomene wie Empathie und Altruismus) mit dem Verweis auf einen evolutionären Fortpflanzungsvorteil zu lösen. (Wobei es oftmals so scheint, als habe die Evolution des Menschen vor ca. 30'000 Jahren aufgehört zu wirken: Dann hat das Zeitalter begonnen, in welchem der Mensch sich gegen seine im Höhlendasein entstandene Natur nur noch versündigt. Aber das als kleine Spitze nur nebenbei.)
Die Entlarvungsrhetorik, mit der ein Altruist zu einem besonders raffinierten Egoisten gemacht wird, ist darum hohl.
Menschliche Eigenschaften wie Homosexualität und Altruismus geben der Evolutionstheorie zunächst einmal ein Rätsel auf: Wie soll eine nicht auf Fortpflanzung zielende Variante der Sexualität einen Fortpflanzungsvorteil haben? Oder eben: Wie soll Uneigennützigkeit im harten Kampf um knappe Ressourcen evolutionär nützlich sein? Die verschiedenen Antworten, die auf diese letzte Frage gegeben wurden, laufen auf eine Lösung hinaus: «Letztlich» eben bringt die vermeintliche Selbstlosigkeit eben doch irgendwelche Vorteile (für die Gruppe, den Nachwuchs etc.).
In der Popularisierung evolutionsbiologischer Erkenntnisse wird gern übersehen, dass die Begriffe, die dort verhandelt werden, sich oft nur mit Biegen, Brechen und viel historischer Ignoranz auf den Bereich der Kultur übertragen lassen. Soll heissen: Die Selbstverausgabung, die ein Meisenmännchen bei der Brutpflege zeigt, ist nicht dasselbe, was wir unter Altruismus als einer menschlichen Haltung verstehen, die eben durch den Gegensatz zum Egoismus definiert wird. Die Entlarvungsrhetorik, mit der ein Altruist zu einem besonders raffinierten Egoisten gemacht wird, ist darum hohl. Viel Lärm um wenig.
Die Psychoanalyse hat als «Hermeneutik des Verdachts» (Odo Marquard) an solchen vermeintlich spektakulären Blossstellungen ebenfalls einen gewissen Anteil: Die Erkenntnis, dass sich zuweilen manche menschliche Züge, Gedanken, Verhaltensweisen als eine Maskerade ihres exakten Gegenteils erweisen können, wird gern in einen klugscheisserischen Generalverdacht verwandelt. Dann wird gerade der Selbstlose und Bescheidene zum egoistischen Narzissten, der nur auf seinen Selbstdarstellungsvorteil erpicht ist. Jaja, gähn, gähn. Wenngleich auch schon nicht mehr originell, sind solche Verdrehungs-Diagnosen doch weiterhin sehr beliebt. Aber nicht bei mir.
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Egoismus gegen Altruismus
Ein klugscheisserischer Generalverdacht, oder: Warum Evolutionsbiologie und Kultur eben nicht dasselbe sind.