Ehrlichkeit auf Knopfdruck
Zürcher Ökonomen stimulieren das Gehirn, damit Probanden sich ehrlicher, entscheidungsfreudiger oder regelkonformer verhalten. Warum eigentlich nicht gieriger oder aggressiver?

Es kribbelt ein wenig auf der Haut, als Christian Ruff die Magnetspulen an den Unterarm hält. Dann dreht er den Strom hoch – und die Finger ziehen sich zusammen. Ein Reflex, ausgelöst durch das Magnetfeld, das die Nerven stimulierte, die die Fingermuskeln steuern.
Der Test am Journalisten wirkt nicht gerade spektakulär. Doch die Magnetspulen haben es in sich. Werden sie an den Kopf gehalten, können sie Gedanken und Emotionen beeinflussen. Was Aussenstehende schnell mal unheimlich finden und an Gehirnwäsche und Gedankenkontrolle denken lässt, ist Alltag im Labor zur Erforschung sozialer und neuronaler Systeme (SNS Lab). Dieses befindet sich im Hauptgebäude des Universitätsspitals Zürich, zuunterst im Stock V, auf dem eigentlichen Grund des Gebäudes. Dort können die schweren Magnetresonanz- und Computertomografen den Boden nicht durchbrechen.
Gebaut wurde das Labor vor zehn Jahren mit den Geldern der Universität, des Universitätsspitals und des verstorbenen Unternehmers Branco Weiss. Es ist eine unerwartet durchgestylte Welt in Kunstlicht, mit Versuchsräumen, Wartesaal, Küche und Büroraum. Man fühlt sich beim ersten Besuch etwas wie auf einer Weltraumstation in einem Science-Fiction-Film. Doch es ist die Wirkstätte von Christian Ruff. Der Neuropsychologe hat hier die Infrastruktur für die Hirnstimulation etabliert, nachdem er im Jahr 2009 vom University College London an das Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich gewechselt und Neuroökonomie-Professor geworden war.
Mit ihren Experimenten im unterirdischen Labor liegen die Teams von Ruff und der anderen im SNS Lab arbeitenden Forscher gross im Trend. Weltweit versuchen Wissenschaftler mit Hirnbildern und Stimulationsexperimenten die Funktionsweise des Gehirns tiefer zu ergründen. Trotz der beachtlichen Konkurrenz gelingt es Ruff immer wieder, mit seinen Experimenten für Aufsehen zu sorgen. Zuletzt vor gut einem Monat mit einer Veröffentlichung in den angesehenen «Proceedings of the National Academy of Sciences»: Ruff und sein Kollege Michel Marechal konnten darin zeigen, dass eine Hirnstimulation zu mehr Ehrlichkeit führen kann.
Spielsituation mit realem Geld
Der Versuchsaufbau, den Ruff dafür verwendet hat, ist typisch für ihn. In Spielsituationen, bei denen die Teilnehmer um reales Geld spielen, das sie mit nach Hause nehmen können, testet er ein möglichst eng umrissenes Verhalten. Bei der jüngsten Studie mussten die Versuchsteilnehmer zehnmal würfeln und erhielten je nach Augenzahl 9 Franken oder nichts. Insgesamt nahmen 145 Personen teil. Sie mussten die gewürfelten Resultate jeweils in einen Computer eingeben. Dabei waren sie unbeobachtet und konnten auch falsche Wurfergebnisse melden und so einen höheren Gewinn mit nach Hause nehmen. Die Forscher massen die Ehrlichkeit anhand der statistischen Verteilung der Auszahlungen. «Die meisten Teilnehmer gaben dabei tatsächlich häufig die Unwahrheit ein, um ihren Gewinn zu erhöhen», sagt Christian Ruff. Während die meisten nur bei rund jedem zweiten Mal falsche Angaben machten, logen etwa 10 Prozent der Teilnehmer bei jedem Wurf, bei dem sie leer ausgegangen wären.
In diese Spielsituation griffen Ruff und sein Team mit Hirnstimulation ein. Sie verwendeten nicht die Magnetspulen, sondern eine sogenannte transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS). Damit beeinflussten sie einen Hirnbereich im sogenannten Präfrontalkortex, vorne auf der rechten Seite, der bei komplexen Handlungen beteiligt ist. Der Effekt war deutlich: Die Probanden logen weniger. Die Ausnahme bildeten die notorischen Lügner, die sich nicht beeinflussen liessen. «Die Stimulation verstärkte ehrliches Verhalten nur bei Personen, für die lügen einen moralischen Konflikt darstellte», so Ruff. Wer keine moralischen Bedenken hatte, konnte nicht beeinflusst werden.
Vor der Ehrlichkeitsstudie beeinflusste Ruff zusammen mit anderen Forschern in ähnlichen Experimenten die Entscheidungsfreudigkeit von Versuchsteilnehmern, wenn sie ihr bevorzugtes Nahrungsmittel auswählen mussten. Diese Arbeit wurde 2015 im Fachblatt «Nature Communications» veröffentlicht. Zwei Jahre davor platzierte Ruff zusammen mit dem Zürcher Verhaltensökonomen Ernst Fehr eine Arbeit in der renommierten Zeitschrift «Science». Diesmal ging es um die Einhaltung sozialer Normen, wiederum in einer klar definierten Spielsituation: 63 Versuchsteilnehmer erhielten einen Geldbetrag und mussten sich entscheiden, wie viel davon sie einem anderen Probanden abgeben wollten. Den Rest durften sie mit nach Hause nehmen.
In dieser Situation verzichteten die Testpersonen gerade mal auf 10 bis 25 Prozent des Gewinns. Das änderte sich im zweiten Durchlauf, als die Empfänger das Geld auch ablehnen konnten, wenn sie die Aufteilung als unfair empfanden. Die Ablehnung hatte jeweils zur Folge, dass Geber und Empfänger leer ausgingen. «Die soziale Norm in westlichen Kulturen schreibt vor, dass gleichmässig verteilt werden sollte», sagt Ruff. Die neuen Regeln führten tatsächlich dazu, dass die Probanden fairer wurden und 40 bis 50 Prozent ihres Geldes weitergaben.
Mit einer Hirnstimulation an der richtigen Stelle konnten die Forscher die Bereitschaft der Probanden zum Teilen zusätzlich steigern oder senken. Dies war vor allem dann der Fall, wenn die andere Person auf die Aufteilung reagieren konnte. «Die Möglichkeit von Sanktionen durch andere ist oft entscheidend für das Einhalten sozialer Normen», interpretiert Ruff.
Werbung manipuliert Gehirn
Bei all den hochkarätig publizierten Versuchen scheint die Hirnstimulation die Teilnehmer zu besseren Menschen zu machen. Warum nicht aggressiver oder egoistischer? «Natürlich können durch solche Experimente auch negative Effekte auf das Verhalten ausgelöst werden», sagt Ruff. «Aber das ist nicht unbedingt das, was uns interessiert.» Der Neuroökonom empfindet denn auch die Ängste vor den zunehmend besseren Möglichkeiten der Hirnstimulation als unbegründet. «Unser Gehirn wird schon lange beeinflusst, zum Beispiel durch Bilder in der Werbung oder mit chemischen Substanzen», sagt er. Zudem seien die Stimulationseffekte in den Experimenten nur von kurzer Dauer. «Entscheidend ist dennoch, dass die Hirnstimulation in den Händen von Fachleuten bleibt und einer Regulierung unterliegt.»
Dies umso mehr, als die verschiedenen Stimulationsmethoden ein beträchtliches Potenzial für die Behandlung von Krankheiten haben. «Die klinische Anwendung ist weniger weit, als sie sein könnte», sagt Ruff. Methoden wie der Magnetstimulation wird schon seit den 1980er-Jahren eine grosse Zukunft prophezeit. Medizinische Anwendungen haben jedoch nach wie vor meist experimentellen Charakter. «Es fehlt an grossen kontrollierten Studien mit Patienten über längere Zeiträume», so der Forscher. Dennoch ist er überzeugt: «Die Hirnstimulation wird uns in der Forschung und bei Therapien noch viel Neues bringen.»
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