Werner-Oechslin-BibliothekEin Gesamtkunstwerk sucht einen Käufer
Die ETH weigert sich, die kunsthistorische Bibliothek von Werner Oechslin in Einsiedeln zu kaufen. Hat das Lebenswerk des emeritierten ETH-Professors noch eine Zukunft?

Bücher sind sein Beruf und seine Berufung. Werner Oechslin ist Kunsthistoriker, emeritierter Professor der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH), langjähriger Leiter des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur und mit 77 Jahren ein eindringlicher Erzähler, der uns in seiner weltberühmten Bibliothek empfängt. Diese befindet sich nicht etwa in der Nähe der Zürcher Universitäten, sondern 50 Zugminuten entfernt in Einsiedeln, Kanton Schwyz.
Architektonisches Schaustück der bibliophilen Raritätensammlung, die inzwischen über 80’000 Werke umfasst, ist das 2006 eingeweihte, turmartige Gebäude, das der Tessiner Architekt Mario Botta entworfen hat. Oechslin erinnert sich, wie er im Vorfeld der Gründung der Architekturhochschule von Mendrisio mit Botta ins Gespräch kam. Dabei sei die Idee zu diesem Kleinod der Bibliotheksarchitektur entstanden, das auf wenige geometrische Formen reduziert ist und wie eine der Kirchen von Botta aussieht.

Inzwischen sind 15 Jahre ins Land gegangen, und Oechslin möchte, nicht zuletzt auf Drängen seiner Nachkommen, einer Tochter und eines Sohns, dem dauerhaften Provisorium eine solide Zukunft sichern, wie er sagt. Jahrzehntelang hat die ETH die Bibliothek unterstützt. Sie hat die für den Betrieb zuständige Stiftung Werner Oechslin mit jährlich rund einer Million Franken finanziert. Jetzt fährt sie ihr Engagement zurück und weigert sich, die Bibliothek für 11,5 Millionen Franken zu übernehmen.
Oechslin führt uns durch seine Bibliothek. Der Innenausbau im Botta-Bau ähnelt barocken Vorbildern, wie etwa der berühmten Bibliothek des Klosters Einsiedeln. Die Bücher sind auf Holztablaren versorgt, die sich über zwei Stockwerke auftürmen. In den unteren Büchergestellen befinden sich die grossen Folianten, die alle mit vergitterten Türen geschützt sind. In der oberen Etage, die über eine fahrbare Wendeltreppe erschlossen wird, sind die kleineren Bände untergebracht.
Die Bücherschätze sind allerdings nicht alphabetisch geordnet, sondern thematisch, chronologisch und nach Sinnzusammenhängen. Mit dieser Art der Gruppierung wird den Nutzern der Bibliothek beispielsweise das Vergleichen mehrerer Ausgaben desselben Werkes erleichtert.
Kostbare Bücher hinter Gittern
Oechslin öffnet eine der Gittertüren und zeigt uns eine Erstausgabe von Fréart de Chambrays «Parallèle de l’architecture antique avec la moderne» von 1650, die erstmals die Bücher des römischen Architekten Vitruvius ins Französische übersetzte. In dem Buch, das mit unzähligen wunderschönen Radierungen illustriert ist, zeigt Chambray die Überlegenheit der griechischen Säulenordnung über die römische und eröffnete damit eine jahrzehntelange Debatte, die als die «Querelles des ancients et des modernes» in die Geschichtsbücher einging.

Der Architekturhistoriker erinnert sich an seine Studien in der vatikanischen Bibliothek in Rom. Dort habe er sich immer wieder geärgert, dass er nur drei Bücher gleichzeitig ausleihen konnte. Und wenn eines nicht den Erwartungen entsprochen habe, hätte man den Bestellvorgang wiederholen müssen und dabei einen Tag verloren. In Einsiedeln ist das anders. Da kann sich der interessierte Nutzer ein Dutzend oder mehr Bücher zeigen lassen, sie nebeneinander auf dem riesigen Arbeitstisch in der Mitte der Bibliothek ausbreiten und miteinander vergleichen.
Alles in allem bekommt man als Besucher der Bibliothek den Eindruck eines aus allen Nähten platzenden Gesamtkunstwerks.
Aber er kann sie nicht mit nach Hause nehmen. Die Bibliothek Werner Oechslin ist eine reine Präsenzbibliothek, die auf kunst- und architekturhistorische Literatur spezialisiert ist. Mehr als ein Drittel der inzwischen 80’000 Bände stammt aus den ersten drei Jahrhunderten des Buchdrucks, ist also vor 1800 entstanden. Die ältesten und wertvollsten Ausgaben stehen in dem von Botta erbauten Bibliotheksturm, der zugleich Werkraum und Schaufenster der immensen Büchersammlung ist, die sich rhizomartig im Untergeschoss ausbreitet. Wir folgen Oechslin auf einem labyrinthischen Rundkurs, der zuerst in den Keller des Baus führt, der schon ab 1998 als Bibliothek genutzt wurde.
Auf diesem Fundament entstand dann Bottas charakteristischer Bau, der trotz mehrerer Einsprachen und dank einer gewonnenen Volksabstimmung sowie einer Zuwendung in der Höhe von 600’000 Franken, die sich die Gemeinde Einsiedeln und der Kanton Schwyz teilten, 2006 eröffnet werden konnte. Die ETH beteiligte sich ebenfalls am Bau. Sie vermittelte über eine ihrer Stiftungen ein Darlehen, das als Hypothek verwendet wurde.
Bibliophile Kostbarkeiten
Alles in allem bekommt man als Besucher der Bibliothek den Eindruck eines aus allen Nähten platzenden Gesamtkunstwerks. Die Bibliothek besteht nicht nur aus Büchern und einem barocken Hauptgebäude, sondern auch aus einem kreisrunden Raum im Untergeschoss, der mit einer Stele und Büsten von Nietzsche, Voltaire, Perikles und Goethe ausgeschmückt ist. In einem weiteren Raum, in dem die bibliophilen Kostbarkeiten in einem spiralförmigen Regal untergebracht sind, ist die Decke mit einem Sternenhimmel bemalt.

Seit über zwanzig Jahren unterstützt die ETH diese Bibliothek, indem sie die Stiftung Werner Oechslin Bibliothek finanziert. Als es aber darum ging, dass die Hochschule die Übernahme der privaten Bibliothek durch die Stiftung mit 11,5 Millionen Franken finanzieren sollte, kündigte sie die Verhandlungen auf. Das war im Juli 2020. Die Pressestelle der ETH begründet die Absage damit, dass man sich nicht etwa am Preis gestört habe, der ja der Hälfte des Schätzwertes entspreche, sondern an der Tatsache, dass die ETH die Bücher nicht zum Eigentum erwerben könne.
Oechslin blockiert einen Verkauf an die ETH deshalb, weil er befürchtet, dass die Integrität dieser Rare-Books-Sammlung von Weltrang verloren geht, wenn sie durch die Bibliothek der Hochschule übernommen wird. Er befürchtet, dass die kostbaren Doubletten der Büchersammlung ausgesondert und verkauft würden. Zudem eigne sich das Katalogsystem, das die ETH einführen wolle, nicht für eine derartige Sammlung alter Bücher, die viele seltene Unikate umfasse. Er ist überzeugt, dass nur eine Stiftungslösung die Unabhängigkeit und den Erhalt der Bibliothek garantieren kann.
Zu museal für die ETH
Für die ETH sind das aber Rahmenbedingungen, die sie nicht akzeptieren kann. Sie will nicht einen Bücherkauf für eine Bibliothek finanzieren, die dann im Besitz einer Stiftung wäre, die ihre Zukunft ganz unabhängig von der ETH planen kann. Gemäss Eidgenössischer Finanzkontrolle, die das Verhältnis der ETH zu der Bibliothek im Jahr 2020 untersuchte, besteht bei einem solchen Deal «das Risiko eines Verlustes der künftigen Nutzungsmöglichkeit der Bücher bei einem Verkauf an Dritte, insbesondere aufgrund von Unwägbarkeiten im Zuge eines Erbganges».
Muss die Rettung der Bibliothek zur Sache des Bundesrats werden?
Die ETH brach allerdings nicht nur die Verhandlungen über den Kauf der Bücher ab, sondern kündigte auch ihren Vertrag mit der Stiftung. Die Eidgenössische Finanzkontrolle nennt in dem erwähnten Bericht die Gründe: Sie kam zum Ergebnis, dass die Betriebsbeiträge der ETH an die Stiftung in der Höhe von 600’000 Franken im Jahr gerechtfertigt seien, dass aber für die Forschungsbeiträge in der Höhe von jährlich 400’000 Franken keine entsprechenden Leistungen ausgewiesen seien.
Inzwischen haben sich Vertreter der ETH, der Stiftung und neuerdings auch des Kantons Schwyz aber wieder getroffen und einen Interimsvertrag ausgehandelt. Dieser sieht vor, dass die ETH ihr Engagement bei der Stiftung zurückfährt und der Kanton Schwyz den fehlenden Betrag übernimmt, sodass weiterhin ein Betriebsbeitrag von einer Million Franken im Jahr zur Verfügung steht und die Arbeit der Stiftung bis 2025 garantiert ist. Die ETH schreibt: «Wir sind sehr zuversichtlich, dass eine Vereinbarung für die Jahre 2022 bis 2024 binnen Monatsfrist unterzeichnet werden kann. In dieser Zeit sollen gemeinsam und mit weiteren Partnern die Grundlagen für die langfristige Weiterentwicklung der Bibliothek geschaffen werden.»
Wie die Zukunft der Bibliothek aussehen wird, liegt noch weitgehend im Dunkeln. Man könnte sich auch vorstellen, dass Dubai oder ein anderes arabisches Emirat interessiert sein könnte. Sicher ist jedenfalls, dass nach dem Rückzug der ETH nun andere Geldgeber gefragt sind, die der Stiftung den Kauf der Bücher finanzieren. Inzwischen hat sich auch der Zuger Nationalrat und Mitte-Präsident Gerhard Pfister eingeschaltet. In einer Interpellation (vom 5. Mai 2021) fordert er, dass «unbedingt vermieden werden muss, dass die ETH sich die Bibliothek einverleibt». Die Rettung der Bibliothek Werner Oechslin müsse zur Chefsache, also zur Sache des Bundesrats werden. Die Antwort aus Bern steht noch aus.
Fehler gefunden?Jetzt melden.