Ein Ghetto-Robin-Hood und die Sprache des Punk
Krimi der Woche: Gleichzeitig emotional und analytisch, politisch und herzzerreissend ist der packende Noir-Thriller «Safe» von Ryan Gattis.

Der erste Satz
Ich bin auf der First Street, Augen nach oben, aber tief im Sitz, mein Wagen parkt gegenüber den Sozialwohnungen des Rancho San Pedro Projects am absoluten Ende von Los Angeles.
Das Buch
Ricky Mendoza Junior alias Ghost und Rudolfo «Rudy» Reyes alias Glasses verbindet mehr als nur ihre mexikanischen Wurzeln. Die beiden Hauptfiguren, aus deren Sicht der US-Autor Ryan Gattis die Story seines neuen Romans «Safe» erzählt, sind zwar vordergründig Kontrahenten, aber im Grunde haben sie ähnliche Ziele. Ghost ist ein brillanter Tresorknacker, der vor vielen Jahren vom Gangster zum Dienstleister der Drogenpolizei DEA geworden ist. Glasses, der Gangster mit der Brille, ist die rechte Hand des Drogenbosses Rooster.
Es ist das Jahr der Immobilienkrise in den USA, 2008, viele kleine Hausbesitzer können ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen. Bei Ricky, der vor Jahren eine schwere Krebserkrankung überstanden hat, sind die Tumore zurück. Er weiss, dass er nicht mehr lange leben wird. Und wird zu einer Art Ghetto-Robin-Hood: Er zweigt grosse Summen aus Tresoren, die er knackt, ab, um heimlich Hypotheken von Menschen zu bezahlen, die ihr Haus zu verlieren drohen.
Rudy auf der anderen Seite ist Familienvater geworden und sieht keine Zukunft mehr als Gangster. Um ein neues Leben beginnen zu können, will er der DEA seinen Boss Rooster servieren. Die Liste der Drogenhäuser, die er der DEA gibt, gelangt aber auch zu Ricky. Und als der beginnt, Roosters Safes zu knacken, stossen die beiden aufeinander. Ricky hat keine Angst: «Gestern ist weg, und Morgen kommt nie. Es gibt nur das Hier und Jetzt. Diesen Moment.» Rudy findet zwar: «Es gibt Schlimmeres als Verräter. Ein Monster, ohne Regeln und Anstand zu sein, das ist schlimmer», doch nun muss er befürchten, dass Rooster wegen Ricky seinen Verrat zu früh bemerkt.
Ryan Gattis, der vor zwei Jahren mit seinem brillanten Roman «In den Strassen der Wut» über die Unruhen von 1992 in Los Angeles nach der Misshandlung des Schwarzen Rodney King durch die Polizei Furore machte, erzählt in «Safe» eine packende Gangstergeschichte aus der Drogenszene in L.A. Virtuos komprimiert er die komplexe Geschichte, die auch von Sucht und deren Überwindung handelt, auf einen Zeitraum von 48 Stunden. «Safe» ist ein bewegender Noir-Roman, der gleichzeitig analytisch und emotional, politisch und herzzerreissend ist. Und der wie beiläufig eine der Forderungen erfüllt, die an zeitgemässe Kriminalliteratur zu stellen sind: zu zeigen, wie es zu und her geht auf der Welt. Den Soundtrack dazu liefert ein Punk-Mixtape, das eine Freundin Ricky hinterlassen hat und ihm gezeigt hat, «dass Punk meine Sprache spricht, ohne dass ich es wusste. Punk kam nicht daher, wo ich herkam, aber Punk wusste, wie wütend ich war, bevor ich es selbst wusste.»
Die Wertung
Der Autor
Ryan Gattis, geboren 1987 in Belleville, Illinois, auf einem Luftwaffenstützpunkt der US Army, wuchs in Colorado auf. Er studierte Creative Writing an der Chapham University in Orange, Kalifornien, und an der University of East Anglia im englischen Norwich. 2004 erschien sein erster Roman «Roo Kickkick & the Big Bad Blimp», es folgten weitere Romane, die auf Deutsch nicht eschienen sind. «All Involved» (2015, Deutsch «In den Strassen der Wut», 2016), ein packender Thriller über die gewalttätigen Unruhen nach der Misshandlung von Rodney King 1992 in Los Angeles, war sein erstes international erfolgreiches Buch. Er lebte in Kalifornien, England, Australien und Japan und lehrte während fast zehn Jahren Creative Writing an der Chapman University. Gattis lebt mit seiner Frau in Los Angeles, wo er der Street-Art-Gruppe UGLAR Works angehört und Gründungsmitglied von 1888 einer kalifornischen Organisation, die sich für das kulturelle Erbe engagiert, ist.

Ryan Gattis: «Safe» (Orginal: «Safe», MCD at Farrar, Straus and Giroux, New York 2017). Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Michael Kellner. Rowohlt Hundert Augen, Reinbek bei Hamburg 2018. 412 S., ca. 30 Fr.
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