Analyse zur DocumentaEin lang angekündigtes Debakel
Eingeläutet wurde die 15. Documenta mit Sponti-Jubel. In die Geschichte eingehen wird sie wegen steuerlich finanziertem Antisemitismus in monströsem Ausmass.

Vor Unfällen nimmt man die Welt verlangsamt wahr und sieht wie in Zeitlupe, dass die Leiter, die man stabil glaubte, aus irgendeinem Grund immer weiter kippt und sich der Boden nähert. Und obwohl man weiss, was da passiert, dass man nämlich fällt, muss man staunen und weiss nichts mehr, schon gar nicht, wie es dazu kommen konnte.
Das ist die Geschichte der fünfzehnten Documenta. Seit vielen Monaten wurde vor einer Ausstellung antisemitischer Kunstwerke gewarnt, es sollten Foren und Gremien im Vorfeld dafür sorgen, dass so etwas nicht passiert, dass stattdessen ein Dialog über diese Themen stattfindet.
Hilflos wirkte das, um das Mindeste zu sagen.
Erfolgreich waren diese Bemühungen nicht, und mehr noch: Als es dann so weit war, als die Veranstaltung in überaus gerechtfertigter Empörung über ein Kunstwerk, auf dem Juden als Schweine und Blutsauger abgebildet sind, unterzugehen drohte, da griff die Leitung zunächst zu einer schwarzen Plane, um es zu verhüllen, und so machte sie das inkriminierte Bild nur noch sichtbarer. Hilflos wirkte das, um das Mindeste zu sagen. Den nun folgenden Abbau des Kunstwerks, das ein Machwerk ist, stellt die Leiterin der Documenta, Sabine Schormann, in ihrer Erklärung von Dienstagabend als ohnehin geplanten «nächsten Schritt» dar, in dem der Aufsichtsrat sie «bestärkt» habe. Dieser Abbau ist zwar alternativlos, er rührt aber nicht mehr an das grundsätzliche Problem der konzeptionellen Fehleinschätzung.

Dabei hatte alles mit so guten Vorsätzen begonnen. Auf der Eröffnungsfeier freute sich Sabine Schormann sichtlich, sie rief den geladenen Künstlerinnen und Künstlern die heute in Sponti-Kreisen und auch Durchhalte-Seminaren aller Art gern verwendete Phrase «You all rock!» zu und kritisierte Debatten, die «am Kern des Konzepts vorbei» gehen. Sie meinte damit die Warnungen, die sich nun als berechtigt erwiesen haben.
Frau Schormann und der Oberbürgermeister von Kassel, Christian Geselle, waren sich zunächst darin einig gewesen, die Kritiker zu kritisieren und ihnen vorzuwerfen, das Konzept zu verfehlen, das nämlich darin bestehe, den «globalen Süden» einzuladen, vertreten durch das Kollektiv Ruangrupa aus Indonesien.
Denen, so die Botschaft der Eröffnungsreden, gehe es eben um Konzepte des Zusammenlebens, um Kunst als kollektiven Prozess und Fragen der globalen Ungleichheit – und eben nicht um die Fragen, die die Bundesrepublik oder Europa bewegen. Es war ein zunächst ganz sympathisch anmutender Ansatz, der allerdings Risiken barg, denn bei aller Öffnung zur Welt bleiben unsere Sorgen ja brisant, sind unsere Konflikte, geschweige denn unsere Verbrechen ja nicht aufgehoben, als sei Kassel für die Dauer der Documenta etwa eine indonesische Insel unter Palmen. Das wurde nicht bedacht, und nun sehen wir statt eines Festes des guten Wetters mit fröhlichen Menschen einen Skandal ungeheuerlichen Ausmasses: die Förderung von drastischem Antisemitismus mit öffentlichen Mitteln.
Es ist der Begriff des «globalen Südens» der mehr verschleiert, als er erklärt.
Eine solche Schande hat ihre Ursachen freilich nicht nur in der Nachlässigkeit bei der Kuratierung der Kunstwerke, sondern im Konzept selbst. Es ist der Begriff des «globalen Südens» der mehr verschleiert, als er erklärt.
Machen wir die umgekehrte Probe: Was würde eine Kunstausstellung in Simbabwe aussagen können, die Kreative aus Portugal, Finnland, Kanada, Texas, Ukraine und Russland zusammen einlädt, um mal was über den «globalen Norden» zu erfahren? Im besten Fall einige Klischees. Der schlimmste Fall, der nun in Kassel wahrhaft eingetreten ist, ist kein unvorhersehbares Ereignis.

Die US-amerikanische Anti-Defamation League pflegt seit vielen Jahren einen Index antisemitischer Einstellungen in den Ländern der Welt. Für Indonesien wurde ermittelt, dass 47 Prozent der Bevölkerung antisemitische Klischees oder Einstellungen hegen, in Deutschland sind es «nur» 27 Prozent. Antisemitismus ist dort, obwohl es nur etwa 200 Juden in Indonesien gibt, ein deutlicher Zug im öffentlichen Diskurs.
In dieser grossen, muslimisch geprägten Demokratie machen sich immer auch radikale islamistische Gruppen bemerkbar, die ganz offen ihren Judenhass kultivieren; der Widerspruch dagegen fällt schüchtern aus. Bis heute hat Indonesien keine Beziehungen nach Israel. Und als zu Beginn dieses Jahres in Sulawesi ein Holocaust-Museum eröffnet wurde, gab es eine heftige politische Kontroverse, die von diversen islamischen Parteien befeuert wurde.
Die Schliessung des Museums wurde verlangt, das den inneren Frieden bedrohe, und auch die Einbestellung der deutschen Aussenministerin. Schon vor vier Jahren wies der Kulturwissenschaftler Blake Smith im Tablet Magazine auf die lange, komplizierte Geschichte des indonesischen Antisemitismus hin. Juden kamen mit den niederländischen kolonialen Ausbeutern nach Indonesien, und sie werden bis heute damit identifiziert. Und mehr noch: Auch der Konflikt mit China wurde mit den Motiven des klassischen Antisemitismus vermischt. Wo auch immer sich indonesische Aktivisten, Befreiungsbewegungen der Linken oder der radikalen Muslime propagandistisch äussern wollten, rekurrierten sie bereitwillig auf die bekannten Antisemitismen vom jüdischen Blutsauger und Co.
Die romantische Idee eines Happenings, das rockt, musste schiefgehen.
Aus diesen Einschätzungen zur Aktualität des Antisemitismus in der indonesischen Gesellschaft darf nicht gefolgert werden, dass alle Menschen dort diese Einstellung teilen, es sind weniger als die Hälfte. Aber die politische Potenz und Gefahr des radikalen Islamismus erhöht nun mal deutlich das Risiko, sich auch im Ausland als Feind der Juden und des Staates Israels zu erkennen zu geben. Auch der globale Süden hat seine Innenpolitik, seine Zivilgesellschaft und seine arg komplizierte Geschichte. Es ist kein kultureller Jungbrunnen der kollektiven Erneuerung, wo Konflikte und Kämpfe bei einem grossen Mahl besprochen und vergessen werden wie in dem kleinen gallischen Dorf von Asterix, das gegen die römischen Kolonialherren Widerstand leistet.
Die romantische Idee eines Happenings, das rockt, und in dem der globale Süden die Funktion hat, uns «den Spiegel vorzuhalten» musste schiefgehen, wenn man nicht zugleich dafür Sorge tragen konnte, dass die spezifischen indonesischen Gegebenheiten eine kritische Berücksichtigung finden.
Es fehlte diesem Konzept, wie man an der eiligen Nachbereitstellung eines so monströsen Bildes sieht, mindestens an Sorgfalt; die Absicht überstrahlte berechtigte Einwände, und der Wunsch, dass es rockt, führte letztlich in eines der grösseren kulturpolitischen Debakel der vergangenen Jahre. Ausgerechnet in Kassel, der im Nationalsozialismus so belasteten Stadt, wurde die Chance vergeben, mit dem Problem des Antisemitismus verantwortungsvoll umzugehen.
Dieses lang angekündigte, leicht vermeidbare Debakel beschädigt die Documenta als Institution – und es sollte natürlich entsprechende Konsequenzen haben. Auch wenn im Statement der Documenta-Leitung von Dienstagabend von derlei noch keine Rede war.
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