Ein Leben zwischen Gulag und KZ
Kommunisten um Walter Ulbricht haben nach ihrem Moskauer Exil den Stalinismus in der DDR eingepflanzt. Widerstand war lebensgefährlich, wie etwa das Schicksal von Erwin Jöris zeigt.

Deutscher kann ein Schicksal fast nicht sein. Erwin Jöris war ein junger Kommunist in Berlin, als Hitler 1933 an die Macht kam. Die Nationalsozialisten steckten den 21-Jährigen umgehend ins KZ und liessen ihn erst wieder raus, als er versprach, sich nie wieder «im staatsfeindlichen Sinne zu betätigen». Zwei Monate später emigrierte Jöris nach Moskau, wo er für den Kampf im Untergrund geschult werden sollte.
Es war eine Reise aus der Hölle in die Hölle: Stalin liess grade die Sowjetunion säubern von Leuten, die ihm nicht genehm waren. Schockiert von den Schauprozessen, wurde Jöris zum Regimegegner. Nach vier Jahren stand er vor der Entscheidung, zu bleiben und verhaftet zu werden oder heimzukehren und erneut ins KZ zu kommen. «Ich bin dran», beschrieb Jöris in einem Interview mit dem deutschen Historiker Andreas Petersen seine Gedanken von damals.
1000 tote Deutsche
Erwin Jöris war ein «Moskauer», wie Petersen die deutschen Kommunisten bezeichnet, die 1933 in die Sowjetunion aufbrachen, sei es aus Idealismus oder aus Angst vor den Nazis. In dem Buch «Die Moskauer: Wie das Stalintrauma die DDR prägte» schildert er Einzelschicksale wie jenes von Jöris. Bis Mitte der 30er-Jahre waren 8000 Deutsche in der Sowjetunion, mit oder ohne Parteibuch: «Für viele von ihnen wurde das Vaterland aller Werktätigen zur Falle.» Sie wurden zuerst isoliert und überwacht, dann gebrochen oder getötet.
Die Kommunisten haben mehr eigene Leute als Feinde ermordet. «Was die Moskaufahrer erlebten, führte alle Erwartungen, wer ihr Feind war, ad absurdum», bilanziert Petersen. Wer sein eindrückliches Buch liest, erfährt viel über die kommunistische Herrschaft, die auf Paranoia und Denunziation basierte. Dadurch gelang es der Führung in Moskau respektive jener in Ostberlin, die Gesellschaft fast vollständig zu atomisieren. «Seit Beginn der Revolution gab es den Widerspruch zwischen Verkündung und Realität, zwischen Traum und Trauma.»
Über 1000 tote Deutsche, in Lager verschleppt, hingerichtet oder verschollen, seien heute namentlich bekannt, schreibt der an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Windisch lehrende Historiker. Dazu kommen die Überlebenden, die Kinder in den Heimen und jene deutschen Kommunisten, die die Sowjets nach Nazi-Deutschland zurückschickten. Stalin war mindestens so sehr ein Antikommunist wie Hitler. Nach Abschluss ihres Nichtangriffspakts im August 1939 schoben die Sowjets rund 350 Deutsche ab. Auch Erwin Jöris wurde via Lubjanka nach Berlin ausgewiesen, wo die Gestapo auf ihn wartete.
Von den 68 führenden Funktionären der KPD in der Sowjetunion wurden 41 ermordet. Die übrigen gehörten zu den auserwählten Opportunisten um Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck, den Anführern der deutschen Exilkommunisten und zugleich devoten Vasallen des Kremls, die die Nachkriegszeit in Deutschland planten. Insgesamt kehrten 1400 deutsche Kommunisten nach der Gehirnwäsche in den Kominternschulen zurück in die sowjetische Besatzungszone. In Ostdeutschland bildeten sie den neuen Führungskern.
Zum Rapport bei Stalin
Ein demokratischer Neuanfang war nicht vorgesehen, es sollte nur demokratisch aussehen, wie Ulbricht anordnete. Die sowjetischen Interessen standen stets im Zentrum. Ab dem 1. Mai 1945 agierten die Ulbricht-Leute im zerstörten Berlin, wobei sie immer wieder zum Rapport bei Stalin einbestellt wurden.
Nach ihrem Exil in der Sowjetunion lebten die deutschen Kommunisten mit einer «Kultur der Lüge», die sich in der DDR fortsetzte, wie Petersen schreibt. Über den erlebten Terror schwiegen sie bis nach der Wende 1989. Kein Wort über das Verschwinden ihrer Genossen, über ihre eigenen Verhöre und die Jahre in sowjetischen Gefängnissen. Das grösste Tabu blieb der Verrat von Kameraden und Angehörigen: die Bedingung, um überleben zu können. «Der Schrecken, die Lüge und das Schweigen wurden zum mentalen Fundament des neuen Staats», schreibt Petersen, der mit seinem Buch einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR leistet.
Trotz seiner Enttäuschungen gab Erwin Jöris dem Kommunismus nach dem Krieg nochmals eine Chance und trat in die SED ein. Den Untergang der Nazis hatte Jöris als Soldat der Wehrmacht in Berlin erlebt. Nun glaubte er, dass der Sozialismus in Deutschland ganz anders sein würde als in der Sowjetunion. «So was konnten sie hier doch nicht machen.»
Jöris aber blieb Jöris. So nahm er kein Blatt vor den Mund, als ehemalige Nazis in die SED eingegliedert wurden. «Schade, dass Goebbels tot ist, der hätte noch einen guten Kreisleiter abgegeben», meinte er einmal zu einem Verwandten, der in einer SED-Kreisleitung sass. Dieser lachte, Jöris aber wurde verhaftet und verschwand im sowjetischen Kellergefängnis in Hohenschönhausen. Kurz darauf folgte das Urteil: 25 Jahre Workuta, ein Bergwerkslager am Polarkreis, das Alexander Solschenizyn als «Mittelpunkt der Hölle» bezeichnete.
Mit den letzten Kriegsgefangenen, die der westdeutsche Kanzler Konrad Adenauer 1955 heimholte, kam auch Erwin Jöris nach Ostberlin zurück. Dort hatte seine Frau auf ihn gewartet. Zwei Nächte später floh das Paar in den Westen. Jöris arbeitete fortan in Köln in einem Kühlhaus. Die Sowjetunion, die DDR und den Kommunismus überlebte er. Jöris wurde 101 Jahre alt.
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