Ein Literaturtheater frischt sich auf
Ursina Greuel und Tamaris Mayer leiten künftig das Sogar-Theater in Zürich. Auf der kleinen Bühne steht die Lust am Text im Zentrum.

Der Verkauf des Hauses war im Grunde die Rettung des Sogar-Theaters, erklärt Ursina Greuel. Sie ist die neue künstlerische Leiterin der kleinen, in einem Hinterhaus versteckten Bühne an der Josefstrasse 106 in Zürich und präsentiert dort heute ihre Eröffnungspremiere: «Die Gottesanbeterin» von Anna Papst. Diese findet noch in den alten Räumen statt; ab April 2019 wird dann für ein halbes Jahr umgebaut. Um das Theater mit den rund 60 Plätzen überhaupt nach zeitgemässen Standards weiterführen zu können, ist etwa eine Entflechtung von Küche und Bühnenraum vonnöten. Und die Hauskäuferin, die Stephan-à-Porta-Stiftung, stellt sich voll hinters Theater, das im Herbst 1998 in der ehemaligen Kantine der Filmbetriebe dort startete.
So fallen der personelle und der bauliche Aufbruch quasi in eins. Aber es solle nicht der Eindruck aufkommen, dass alles umgekrempelt werde, unterstreicht Greuel. Im Gegenteil: Sie überzeugte die Findungskommission auch dadurch, dass ihr Konzept daran anknüpft, was die Gründer Peter Brunner und Doris Aebi vor zwanzig Jahren ins Leben riefen: ein Literaturtheater. Ein Theater, in dem es vor allem um die Lust und den Dienst am Text geht, weniger um Regieeinfälle – um nicht zu sagen: Regieüberfälle. Wobei sich der Akzent neu auf die zeitgenössische Literatur verschiebt.
Faszination Wortstrudel
«Ich hatte immer schon eine grosse Liebe für geformte Sprache auf der Bühne», sagt die 47-jährige Regisseurin: Stücke profitierten, wenn man sie nicht zudecke, sondern ihnen genau zuhöre. Greuels eigenes Aha-Erlebnis war Christoph Marthalers «Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!» (1993). Und nach dieser mentalen Berlin-Visite erinnert sie sich an den akkurat rhythmisierten Wortstrudel von «Das Matterhorn ist schön» von Beat Sterchi, den Greuel 2001 in der Autorenreihe Anti-Schublade in Basel inszenierte: Das faszinierende Wortkonzert encharmierte alle derart, dass Greuel mit Ehemann, Autor und Spoken-Word-Crack Guy Krneta, 2002 die Gruppe Matterhorn-Produktionen formierte.
In ihrer «Stückbox» zeigt die Wahlbaslerin seit 2015 viermal im Jahr neue Stücke in, sagen wir, Probier-Inszenierungen, die im engen Austausch mit den Autoren entstehen. Neu wird die «Stückbox» mit dem Sogar-Theater kooperieren; auch «Kaltlesungen» aus heranreifenden Stücken sind geplant. Und als sich abzeichnete, dass aus Greuels Bewerbung um die Sogar-Bühne etwas werden könnte, schlug sie eine Co-Leiterin vor, die in der Welt des Spoken Word und der Dialektkunst bestens vernetzt ist: Tamaris Mayer.
Die 40-jährige studierte Germanistin und Kulturmanagerin mit dem Pixie-Cut wirkte nicht bloss jahrelang bei «Zürich liest» mit, sondern wechselte 2014 zum Verlag «Der gesunde Menschenversand», der sich für ebensolche performativen Literaturformen starkmacht. Mayer bleibt zu 40 Prozent dort beschäftigt und ist zugleich für die Spoken-Word-Reihe im Sogar-Theater sowie für dessen Kommunikation und Geschäftsleitung verantwortlich. Mayer und Greuel kennen sich seit Jahren, und 2016 stellten sie ihr erstes gemeinsames Projekt auf die Beine. Dass die Frau im farbenfrohen Blumenkleid und jene im strengeren dunklen Outfit gut miteinander können, ist beim Gespräch in der neuen Retro-Minilounge des Theaters sofort spürbar.
So unterschiedlich sie sind: Beide lassen sich nicht von gemütlichen Strukturen verführen. «Reibung inspiriert mich», sagt Greuel, die geradezu jugendliche Mutter von vier Kindern zwischen 7 und 17 Jahren. Und Reibung bietet die Sogar-Bühne mit ihren Räumlichkeiten, die furchtbar winzig und verborgen sind. Umso besser, findet die Frau, die über ein unerschöpfliches Energiereservoir zu verfügen scheint. Die Elitisierung und Professionalisierung der freien Theatermacher passt ihr nicht: Wo man mal rausgewollt habe aus dem Establishment, bewege man sich jetzt tendenziell hinein in den Elfenbeinturm. Nicht so im Sogar-Theater, wo Quartierbewohner und Menschen mit Migrationshintergrund nun eigene Formate wie Beschwerdechöre erhalten und eine Bar dazu. Die Tür nach draussen soll offenstehen.
Platz für die Fantasie
Greuel, die – als Tochter einer Zürcherin in Deutschland aufgewachsen – in Zürich an der Schauspielakademie studiert hat, gab ihre Regiearbeit am Hamburger Thalia-Theater auf, weil der grosse Apparat ihr zu viele Kompromisse abverlangte. Dass Innovation auf der Bühne lang vor allem bedeutete, den Text als Sprungbrett zu benutzen, war gleichfalls nicht ihr Ding. Heute probt sie jeweils 15 Tage bis zur Premiere, greift dabei auf einen Stamm vertrauter Schauspielerinnen und Schauspieler zurück, die man teilweise bereits am Sogar-Theater kennt, und verzichtet auf Bühnenbild und Firlefanz. Dass sie einst ausgerechnet mit einem Bühnenbildpraktikum am Gorki-Theater in Berlin ins Theaterleben startete, entbehrt nicht der Ironie.
Sie will «durch Kargheit Platz machen für Fantasie», Bilder entstünden im Kopf, da spiele die Musik. «So eine Worttheaternische ist wichtig, die grösseren Bühnen hier haben keinen Fokus auf literarische Sprache.» Den neuen, von der Stadt Zürich lancierten Theateraufbruch verfolgt man an der Josefstrasse mit kritischem Interesse.
Doch Angst vor städtischen Anforderungen habe man keineswegs. Die 176 000 Franken von der Stadt und die 70 000 vom Kanton machen ein Drittel des Budgets aus; die Zuschauerzahlen haben jüngst die Schallgrenze von 4000 überschritten, die Auslastung betrug in der letzten Saison 87 Prozent. In der Leistungsvereinbarung sind 80 bis 100 Veranstaltungen pro Spielzeit festgeschrieben; Ursina Greuel und Tamaris Mayer hatten so viele Ideen, dass sie diese Zahl schon im April, wenn ihre verkürzten Einstandssaison zu Ende geht, erreicht haben werden.
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