Ein Moloch als Sehnsuchtsort
Die 22-Millionen-Metropole Mumbai geniesst ausserhalb von Indien einen zweifelhaften Ruf. Dabei ist das einstige Bombay demnächst der grösste urbane Raum der Welt.

Am Gateway Plaza an der Südspitze Mumbais, dem touristischen Nabel der westindischen Küstenmetropole, prallen die Welten aufeinander. Mumbais koloniales Gateway aus den 20er-Jahren, stilistisch ein Triumphbogen, ist für Touristen in Indien ungefähr das, was das Brandenburger Tor für jene in Deutschland ist: die Sehenswürdigkeit Nummer eins, ganz oben auf der Checkliste des Abzuarbeitenden. Hunderte indische Familien hocken also am Nachmittag bei 32 Grad Celsius auf dem Boden und improvisieren ein Picknick mit mitgebrachten Snacks. Gelb-schwarze Taxis und rote Busse, zwecks besserer Belüftung ohne Fensterscheiben, fahren pausenlos an und ab, düstere Dieselschwaden ausstossend. Fliegende Händler verkaufen alles, wonach Besuchern in Ferienlaune der Sinn stehen könnte, von indischem Masala Chai und Luftballons über Glaceschleckereien, Wasser und Ananas hin zu Lotterielosen, Handysticks, Sonnenbrillen. Eine Inderin Mitte 30 im goldgelben Sari thront im Schneidersitz barfuss auf dem Boden und lässt aus dem Rüssel einer quietschgrünen Spielzeugpistole in Elefantenform Seifenblasen blubbern: 100 Rupien das Stück, etwa 1.40 Franken.
Auf der Südwestseite des Platzes liegt das berühmteste Hotel der 22-Millionen-Metropole, Taj Mahal Palace, vor 115 Jahren im schmucken Bombay-Gothic-Stil eröffnet, mit einer fotogenen rotbraunen Pseudo-Renaissancekuppel und dekorativen Palmen. Vis-à-vis, mit Blick auf die von den Portugiesen einst «bom bahia» getaufte «gute Bucht», eine zwölf Meter hohe Reiterstatue Shivajis, des Nationalhelden des hiesigen Volks der Marathen.
Die «Maximum City»
Ausländische Besucher sind im touristischen Herzen Mumbais mühelos an den nackten Waden bei Frau und Mann zu identifizieren, die in weiten Teilen Indiens als leicht unschicklich oder zumindest kindisch gelten. Weiter oben sind viele westliche Damen binnen Stunden nach Ankunft am Arabischen Meer mit örtlichen Accessoires voll ausgestattet: mit Batikschal, Walla-Walla-Hosen, bestickten Sandalen. Viele Europäer, die sich zum ersten Mal aus dem klimatisierten Wohlfühlkokon eines Luxushotels wagen, sind offensichtlich nervös, unsicher, reizbar. Eine Mittsechzigerin im weissen Sommerkleidchen, französischer Akzent – fühlt sich derart von Strassenhändlern belästigt, dass sie das englische F-Wort allzu liberal und laut gebraucht.
Mumbaikars nennen ihre Stadt aus gutem Grund gern «Maximum City». Die Hauptstadt des Bundesstaats Maharashtra ist nach Einwohnern weit mehr als doppelt so gross wie die Schweiz oder der Big Apple New York. Wie fast alle Grossstädte Südasiens wächst Mumbai weiter rasant, sodass es jenseits von Indien bei vielen den Ruf eines Molochs hat, eines urbanen Monsters. Kann man da denn überhaupt hin? Kann man natürlich. Sollte man sogar. Aber zugegeben: Mumbai stellt einige Anforderungen ans Nervenkostüm.
Trotz grosser Armut eine Weltstadt
Wie ganz Indien ist die Stadt sensationell schmutzig, und zwar zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Die Armut grosser Teile der Bevölkerung ist offensichtlich. Insbesondere in den touristisch wichtigen Vierteln stürzen sich Bettler und gewiefte Schurken auf Besucher aus dem Westen. Das Klima ist in den meisten Monaten von der tropisch heissen, schwülen, körperlich extrem belastenden Sorte. Kurz: Die Warnung, dass es ein bisschen viel werden könnte, ist nachvollziehbar.

Dennoch: Mumbai ist schon heute eine Weltstadt, die in einer Liga mit urbanen Ikonen wie New York, London oder Hongkong spielt. Was die Wall Street in Manhattan, ist hier die Dalal Street, wo die Mumbai Stock Exchange den Sitz im Phiroze-Jeejeebhoy-Tower hat – nach Marktkapitalisierung eine deutlich grössere Börse als jene in Zürich. Da ist die spektakuläre Architektur im historischen Stadtzentrum mit der weltweit einzigartigen Mixtur aus viktorianisch-neugotischen und orientalischen Stilelementen, ergänzt um eine Prise Mogulpracht. Die Filmstudios von Bollywood im Norden der Stadt verheissen Glamour und sind der Grund, warum die «Maximum City» für Hunderte Millionen Inder ein Sehnsuchtsort ist. Sogar Stadtstrände gibt es in Chowpatty und im Stadtteil Juhu. Und vom Gateway Plaza aus fahren bunte Doppelstockfähren in knapp einer Stunde zur Elephanta-Insel mit ihren Hindutempeln, einer von drei Weltkulturerbe-Stätten der Stadt. Neben dem CST-Hauptbahnhof stehen seit Juli auch Mumbais Gothic- und Art-déco-Bauten auf der Unesco-Liste. Gründe genug für einen Besuch also.
Anleitung zum Stadtbummel
Vier Faustregeln können für Mumbai-Novizen dabei hilfreich sein. Erstens: Planen Sie Pufferzone und Rückzugsraum ein. Heisst: Buchen Sie zur Eingewöhnung ein gutes oder sogar ein Spitzenhotel. Besonders diejenigen, die zum ersten Mal nach Indien reisen, sind bald überfordert – da hilft das private Refugium. Zweitens: Packen Sie Ohrstöpsel ein. Die helfen und entspannen (und sind in Indien nicht überall zu bekommen). Tipp drei: Ist der Rückzugsraum gesichert, ist Furchtlosigkeit Pflicht – nichts wie raus auf die Strassen, wo das Leben tobt! Zwischen dem Stadtplandreieck Colaba, Nariman Point und CST in Südmumbai können Sie alles fussläufig erledigen. Und schliesslich Nummer vier: Essen Sie mit gesundem Menschenverstand, aber mit Experimentierfreude. Zu Mumbais kulinarischen Klassikern zählen Vada Pao, ein vegetarischer Burger mit Chili, Mumbai Duck, ein kleiner Fisch mit Zickzackzähnen, und Pomfret, ebenfalls ein Fisch.
Im Jahr 2050, so eine Prognose, werden 42 Millionen Menschen im Grossraum Mumbai leben, 2100 um die 67 Millionen, und spätestens dann wird der Spitzname «Maximum City» weltweit in aller Munde sein. Schon lange vorher, wahrscheinlich binnen drei Jahren, wird die nächste Shivaji-Reiterstatue fertiggestellt. Sie wird auf einer künstlichen Insel stehen und jene am Gateway Plaza um stolze 200 Meter überragen, das dann höchste Denkmal der Welt. Passt prima zur «Maximum City».
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