Ein Nazi spürt das Urgefühl des Alls
Alexander von Senger hat das Gesicht Zürichs an bester Lage geprägt. Kaum einer weiss mehr, wer der Mann war und was er da genau baute.

Jeder 15-Jährige verknallt sich mal hoffnungslos. Aber die wenigsten verknallen sich in ein Haus. Und keiner würde dieser Liebe zu einer Theorie umdeuten, die ihn zum Architektur-Nazi macht. Ausser Alexander von Senger. 1880 in Genf geboren, sollte dieser Mann in den Dreissigern von seinem Münchner Lehrstuhl aus einen Kreuzzug gegen das moderne Bauen führen. Er würde Zürich als «zweites Moskau» beschimpfen und als «deutschschweizerische Gefahr». Er würde in Vorträgen die unehelichen Kinder der Bauhaus-Architekten aufzählen, als Gestapo-Denunziant Karriere machen und von einem Schweizer Gericht als Nazi-Spitzel verurteilt werden.
Aber bevor es so weit war, prägte er seine Idee eines rassenreinen Baustils an bester Lage ins Bild der Stadt Zürich ein. Das weiss heute keiner mehr, wenn er am Seeufer entlanggeht und diesem neubarocken Palais begegnet mit den grimmigen Steinlöwen über dem Portal, den bizarren Fratzen an der Fassade und den Riesenlaternen, die in ihrem ornamentalen Overkill wie eine Disney-Fantasie aussehen. Es handelt sich um das Mutterhaus der Schweizer Rückversicherung, heute Swiss Re. Von Senger hat es als junger Architekt kurz vor dem Ersten Weltkrieg realisiert, und es kommt darin all das zum Ausdruck, was er später im Kampfbund der Nazi-Architekten predigen sollte.

Seine Theorie breitete er im Winter 1930 vor dem Zürcher Gewerbeverband Zürich aus. Der Titel des Vortrags gab den Ton vor: «Vom Tierhaften in der Architektur». Tiere waren natürlich die anderen, die modernen Architekten, die sich anschickten, die Welt zu verändern. Von Senger hatte sich eine Logik gebastelt, die alle gängigen Muster auf den Kopf stellte. Kurzfassung: Intellektuelle sind Tiere, kunstbegabte Menschen dagegen Gefühlswesen. Schliesslich könne sich jeder Hund zweckmässig in der Natur einrichten. Aber Ornamente suche man im Tierreich vergebens – genau wie bei den modernen Architekten, die sich vom Zierrat verabschiedet hatten und sachlich bauten.
Er verspottete die «Hyperintellektuellen» als bucklig und degeneriert.
Von Senger verspottete diese «grossstädtischen Hyperintellektuellen» als bucklig, schiefhüftig und «degeneriert» – klassische Nazi-Stereotype. Er warf ihnen aber zudem vor, kein Gefühl zu haben. Deshalb würden sie echte Kunst (wie die seine) verachten, weil ihnen dadurch dieser Mangel und die eigene «Tierhaftigkeit» bewusst werde. Nebenbei bemerkt: Bei von Senger fühlt natürlich jede «Rasse» anders, weshalb es keinen internationalen Architekturstil geben kann.

Mit dem Sensorium für echte Kunst, für die einzig richtige Architektur, war von Senger seit seiner Zeit als Gymnasiast gesegnet. Seit jenem Tag, an dem ihn ein strenger Lehrer in die Bibliothek von Genf schleppte. In diesem spätbarocken Bau ergriff ihn unverhofft ein «seliges Glücksgefühl» und eine «innere Sonnigkeit». Das war fortan sein Ideal: Ein Haus, das «alle intellektuellen Prozesse zum Schweigen» bringt und stattdessen eine «Verbindung mit dem Urgefühl des Alls» herstellt.
Ein esoterischer Draht ins Universum mittels Ornamentik also – dieses Ziel verfolgte von Senger später, als er sich einen spätbarocken Adelssitz im Städtchen Kaiserstuhl kaufte und restaurierte. Hier schwelgte der junge Herrenmensch in «letzten Harmonien entschwundener Zeiten» und beklagte die «gähnende Kluft, die unsere Zivilisation von der Kultur derjenigen trennt, die vor dem grossen Sklavenaufstand im Westen leben durften». Vor der Französischen Revolution also. Von Senger empörte das Gekritzel napoleonischer Soldaten, das er unter dem Verputz entdeckt hatte. Wenn er zugleich das Mutterhaus der Rückversicherung entwarf, das seinem eigenen bis in Details wie die korinthischen Kapitelle der Eckpilaster ähnelt, ist dort also auch ein explizit antidemokratisches Programm verwirklicht.
Beim Umbau wurde sein Haus ausgerechnet mit Möbeln seines Erzfeindes bestückt.
So was war später nur noch peinlich. Als von Senger 1968 starb, gab es bloss eine Kurzmeldung in der NZZ. In der Chronik der Swiss Re wird er mit keinem Halbsatz gewürdigt. Eine Plakette an der Fassade sucht man vergebens. Stattdessen baute die Firma in den Fünfzigern gleich nebenan ein Clubhaus, das moderner nicht sein könnte. Und als sie den Altbau vor zwanzig Jahren erneuerte, wurde dieser ausgerechnet mit Möbeln von von Sengers erklärtem Erzfeind bestückt: Le Corbusier.
Die Kolumne «Bauzone» widmet sich ausgefallenen, spannenden, hässlichen oder schrägen Häusern, die im Kanton Zürich stehen. Sämtliche über hundert bisher erschienenen Beiträge finden Sie hier: bauzone.tagesanzeiger.ch.
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