Ein Schutzschirm gegen den Killer
Keine Infektionskrankheit tötet so viele Menschen wie Tuberkulose. Erstmals seit 100 Jahren gibt es nun Hoffnung auf einen Impfstoff.

«Ermutigend», «wegweisend», «spektakulär». Wer derzeit Tuberkulose-Forschern zuhört, mag seinen Ohren kaum trauen: Sie sprühen vor Optimismus und Überschwang. Der Londoner Infektiologe und Tuberkulose-Spezialist Richard White sagt, dies sei «wahrscheinlich die aufregendste Zeit seit 100 Jahren». Das ist überraschend angesichts des Gegenstands des Interesses: Tuberkulose (TB) hat sich zur tödlichsten Infektionskrankheit des Planeten entwickelt. Etwa 1,6 Millionen Menschen sterben jährlich an der Infektion mit dem Mikroorganismus Mycobacterium tuberculosis, 10 Millionen erkranken neu.
Historisch gesehen hat die Lungenkrankheit nach Schätzungen etwa eine Milliarde Menschen auf dem Gewissen, in den vergangenen 200 Jahren mehr als Pest, Cholera, Pocken, Grippe und Aids zusammengenommen. Meist zersetzen die Bakterien die Lunge, sie können jedoch auch andere Organe befallen. In vielen Regionen wie Osteuropa und Zentralasien müssen Mediziner zudem mit ansehen, dass sich Stämme ausbreiten, die gegen mehrere Antibiotika resistent sind. 2016 wurden in der Schweiz 620 neue Fälle gemeldet, 15 Personen davon erkrankten an einer multiresistenten Tuberkuloseform.
Doch zuletzt gab es gute Nachrichten. Ärzte ohne Grenzen berichteten, dass es Medizinern der Organisation in Weissrussland mittlerweile gelingt, mit einer Kombination aus neuen Medikamenten etwa 80 Prozent der Fälle mit multiresistenter Tuberkulose zu kurieren. Fast noch wichtiger erscheint Experten, dass auch die Suche nach einem Impfstoff Fortschritte macht. Im Juli berichteten Forscher, dass der experimentelle Impfstoff H4:IC31 einen gewissen Schutz gegen eine TB-Infektion bietet. Als noch besser erwies sich laut der Studie, Erwachsene noch einmal mit einem Wirkstoff zu impfen, der ihnen schon als Kindern verabreicht worden war.
Klinische Erprobung
Der Vorteil dabei: Der «Bacille Calmette-Guérin» genannte Wirkstoff (BCG) ist bereits zugelassen und erprobt. Allerdings war der Schutz der erneuten Impfung relativ gering. Ein weiterer Impfstoff, dessen Entwicklung auf das Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie zurückgeht, befindet sich seit Anfang des Jahres in Indien in der abschliessenden klinischen Erprobung. Er soll speziell bei schon behandelten Patienten zum Einsatz kommen und ein Wiederaufflammen der Krankheit verhindern; das ist ein grosses Problem bei der derzeitigen Behandlung.
Ende September gelang dann der bislang grösste Durchbruch: Der Pharmakonzern GlaxoSmithKline und die Non-Profit-Organisation Aeras gaben dieErgebnisse einer klinischen Phase-2-Studie mit dem Impfstoffkandidaten M72/AS01 bekannt. Die Forscher impften dabei mehr als 1700 Menschen in drei afrikanischen Staaten, die schon mit Tuberkulose-Bakterien infiziert waren, aber noch keine Symptome zeigten. Mehr als jeder vierte Mensch auf der Welt trägt nach Schätzungen die Bakterien bereits in sich, meist ohne zu erkranken. Die Effizienz von M72 liege bei 54 Prozent, schreiben die Forscher im «New England Journal of Medicine». Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe verhinderte der Impfstoff also gut die Hälfte der Erkrankungen. Das Vakzin hat zudem schon mehrere klinische Studien hinter sich, bis zur möglichen Zulassung würde nun nur noch eine weitere erfolgreiche Erprobung fehlen, wenn auch in grösserem Massstab.
Klar ist: Neue Impfstoffe kann die Welt dringend gebrauchen, der einzig verfügbare ist fast 100 Jahre alt. Mit dem von Albert Calmette und Camille Guérin entwickelten BCG wurde 1921 erstmals ein Kind gegen Tuberkulose geimpft. Seitdem tat sich auf dem Gebiet praktisch nichts mehr. Noch immer impfen Mediziner mit BCG Millionen Säuglinge in Regionen, in denen TB besonders verbreitet ist. Bei Kindern lässt sich der Ausbruch von schweren Formen der Krankheit damit zuverlässig verhindern. Jedoch hält der Schutz nur einige Jahre, der Erreger kann sich daher unter Erwachsenen wieder verbreiten und eine Lungentuberkulose auslösen.
54 Prozent Wirksamkeit
Für einen Impfstoff sind die nun erreichten 54 Prozent Wirksamkeit aber eher bescheiden. Zum Vergleich: Bei der Masernimpfung liegt der Wert bei 97 Prozent. Dennoch könnte schon ein kleiner Schutz Grosses bewirken, weil die Epidemie an sich so gewaltig ist. «Mit 50 Prozent Wirksamkeit könnte man in 20, 30?Jahren bis zu 60 Millionen Fälle verhindern und Hunderttausende Menschenleben retten», sagt Ann Ginsberg von der Organisation IAVI, die an der Entwicklung von M72 beteiligt ist. Dies hätten Modellrechnungen verschiedener Forschungsgruppen gezeigt. Rebekkah Harris, Tropenmedizinerin an der Universität London, hat berechnet, dass selbst ein günstiger Wirkstoff mit 20 Prozent Wirksamkeit in vielen Ländern kosteneffizient sein könnte.
Dass TB zum grössten Killer unter den Infektionskrankheiten werden konnte, liegt auch an den Erfolgen im Kampf gegen Aids. Dank neuer Medikamente ist die Sterblichkeit wegen HIV stark zurückgegangen, sodass nun TB Spitzenreiter ist. TB-Forscher mussten mit ansehen, wie Kollegen gegen HIV in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Stoffe entwickelten, während sie selbst auf der Stelle traten. Das Forschungsgebiet gilt seit Jahrzehnten als unterfinanziert.
«Vor 20 Jahren war die Pipeline komplett leer», sagt der Immunologe Thomas Ottenhoff von der Universität Leiden – es wurden also praktisch gar keine neuen Arzneien entwickelt. Dass sich nun etwas ändere, liege vor allem an einer besseren Vernetzung, sagt Ottenhoff. In Europa bringt etwa die Organisation TBVI (Tuberculosis Vaccine Initiative) Grundlagenforscher, Mediziner, Pharmaunternehmen und private Geldgeber zusammen. Laut TBVI befindet sich nun etwa ein Dutzend Impfstoffkandidaten in der klinischen Erprobung, viele weitere sind noch in einem früheren Versuchsstadium. Doch die Entwicklung braucht seine Zeit, die Arbeit an M72 etwa läuft bereits seit 20 Jahren.
Tröpfcheninfektion
Selbst jetzt ist der Erfolg alles andere als sicher. Die Forschung an Impfstoffen ist nur der erste Schritt – der nächste und womöglich schwierigere wäre ihr Einsatz in der Praxis. Dafür müssten teure Impfprogramme aufgelegt und finanziert, Entscheidungsträger von ihrer Notwendigkeit überzeugt werden. Viele Fragen sind noch ungelöst, etwa wer überhaupt geimpft werden sollte.
Erste Stimmen warnen vor einem ähnlichen Fehlschlag wie beim Malaria-Impfstoff RTS,S. Das Mittel zeigte zwar eine gewisse Wirksamkeit, dennoch sprach sich die WHO gegen seinen Einsatz in Afrika aus, weil die Impfroutine zu aufwendig gewesen wäre. Bei Malaria gibt es jedoch auch andere günstige Hilfsmittel, wie Netze und Insektenschutzmittel. Solcher Schutz fehlt für Tuberkulose. Der Erreger verbreitet sich über eine Tröpfcheninfektion, also einfach über die Luft.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch