Ein Umweg durch die DDR
Ulla Hahn hat ihr autobiografisches Romanprojekt mit dem vierten Band vollendet. In «Wir werden erwartet» erzählt sie, warum sie sich der Kommunistischen Partei angeschlossen hatte.

Richard Wagner hatte drei Musikdramen für die Vorgeschichte gebraucht, ehe er im vierten endlich von Siegfrieds Tod und dem Untergang der alten Götterwelt erzählen konnte. Auch Ulla Hahns Hilla-Palm-Saga ist eine Tetralogie geworden, und man wird den Eindruck nicht los, dass die vorangehenden drei Romane – «Das verborgene Wort», «Aufbruch» und «Spiel der Zeit» – notwendig waren, um überhaupt zur Frage zu gelangen: Wie konnte ich nur?
Ja, wie konnte eine so kluge und sensible Person wie diese Hilla Palm – Alter Ego der Autorin, einer feinsinnigen Lyrikerin – 1971 in die DKP eintreten! In die Partei der moskautreuen Kommunisten, die jeden ideologischen Schwenk der Mutterpartei mitmachten und die DDR in stolzer Ignoranz der Realitäten für den besseren deutschen Staat hielten? Fünf Jahre hat Hilla (wie ihre Erfinderin Ulla) Plakate geklebt und vor Werkstoren agitiert. Hat Parteiversammlungen abgesessen und Basisarbeit im Viertel betrieben, den Abriss von Häusern verhindert, einen «Sandkasten für die Kegelhofstrasse» erkämpft. Hat ihre Stelle an der Uni und ihren Doktorvater verloren, das vertraute Köln für das noble Hamburg aufgeben müssen.
Wenn das Schreiben einer Autobiografie, wie romanhaft auch immer, dazu dient, sich über das eigene Leben Klarheit zu verschaffen, dann ist die Aktivität für die DKP der erklärungsbedürftigste Abschnitt im Lebensweg der Autorin. Die Erklärung, die sich auf vier Bände und 2500 Seiten ausgewachsen hat, ist für sie in ihrer ganzen Ausführlichkeit so nötig wie für die Leser von grösstem Interesse: psychologisch, soziologisch, zeithistorisch und literarisch. «Wir werden erwartet» schliesst eine Bildungs-, Emanzipations- und Aufstiegsgeschichte ab, die in der neueren deutschsprachigen Literatur ihresgleichen sucht, und liefert zugleich ein Panorama der 50er- bis 70er-Jahre aus einer Perspektive, die den meisten Lesern so unvertraut sein wird wie Geschichten aus dem fernen China.
Konkreter Einsatz für Menschen
Hilla ist «dat Kenk von nem Prolete», wie es im heimisch-rheinischen Tonfall heisst. Tochter des Hilfsarbeiters Josef Palm, aufgewachsen in Dondorf am Rhein, in finanziell, geistig und emotional äusserst engen Verhältnissen. In den vergangenen Bänden konnte man verfolgen, wie sie sich durchbiss, dem prügelnden Vater und der neidischen Mutter den weiteren Schulbesuch abtrotzte, nach Köln zum Studieren ging und sich am Ende des dritten Bandes mit Hugo verlobte, einem Sohn aus wohlhabendem Hause: Finale und Happy End.
Aber da war ja noch was. Ein Fremdkörper in der Biografie einer Frau, die heute zum gehobenen Hamburger Bürgertum gehört, verheiratet mit Klaus von Dohnanyi, einst Bürgermeister von Hamburg. «Wir werden erwartet», der Finalband des autobiografischen Vierteilers, macht aus dem Fremdkörper einen Fluchtpunkt, auf den das bisher Erlebte und Erlittene zuläuft.
Jede Emanzipations- ist auch eine Verlustgeschichte. In dem Masse, wie sich Hilla aus Beschränkungen befreit, verliert sie auch Bindungen, Vertraut- und Geborgenheit, entfremdet sich von den Eltern, der Verwandtschaft, der Heimat. Den grössten Verlust aber erleidet sie, als der geliebte Hugo bei einem Autounfall stirbt. Diese fast penetrant positive Begleiterfigur hatte Hilla Halt und Orientierung gegeben, gemeinsam hatten sie sich ihren Weg durch Religion und Literatur und auch die oft karnevaleske Polit-Szene von 1968 gebahnt.

Die folgende Trauerarbeit gehört zu den stärksten Partien des Buches. Die DKP bietet der Desorientierten eine neue Heimat. Vor allem eine, die ihr eine Annäherung an ihre Herkunft ermöglicht: «Jetzt wollte ich die Tochter meiner Eltern werden.» Die grosse Liebesgeschichte mit dem Vater, die die Hilla-Palm-Saga zweifellos ist, erhält mit der Entscheidung für den Kommunismus gewissermassen ein politisches Dach: Hilla will dafür kämpfen, dass sich niemand mehr, wie ihr Vater, an der «Maschin» kaputtschaffen muss.
Parteiarbeit, das ist auch der Sprung von den Büchern und der Wissenschaft ins Leben, Arbeit an konkreten Verbesserungen für die Menschen; es ist schliesslich auch der Einsatz «für eine Sache, grösser als man selbst». Hinzu kommen die Überzeugungsarbeit einer Freundin und der zerschundene Rücken eines Altgenossen, der noch unter den Nazis gelitten hat. Viele Motive kommen da zusammen.
Zweifellos: Der Parteieintritt ist überdeterminiert. Und vermag doch die Frage «Wie konnte ich nur?» nicht zum Schweigen zu bringen. Zumal der «Millimeter Zweifel» nie ganz verschwunden ist. Immer wieder meldet sich das Sprachgefühl Hillas, ihre Empfindlichkeit für Phrasen und Parolen. Intellektuelle und moralische Beschränktheit stossen ihr auf. Und dann kommt, spät, aber entscheidend, die Konfrontation mit der realsozialistischen Wirklichkeit. 1975 fährt sie mit einer Delegation auf Einladung des Kulturbundes der DDR nach Ostberlin und Dresden: ein weiteres Glanzstück des Buches. Hilla bekommt die heile Funktionärswelt vorgeführt – mit Reden aus vorgestanztem Blech, Solidaritäts-Besäufnissen und Lesungen gut gemeinter Parteilyrik, trifft aber auch auf Leute, die von Zensur, Druck, Verfolgung erzählen. Auch in der DDR haben nicht die Arbeiter das Sagen, begreift sie, sondern die dortigen Bonzen.
Die Doktorandin als Poetin
Ulla Hahn gelingt in «Wir werden erwartet» die schwierige Balance zwischen Erlebtem und Erfundenem, auch das Zusammenspiel von damaligem und heutigem Ich noch besser als im vorangehenden, reflexiv etwas überfrachteten Band. Sie erlaubt sich, der eifrigen Parteigenossin immer mal wieder skeptisch über die Schulter zu schauen und deren Beobachtungen mit ironischen Spitzen zu versehen.
Voller sprechender Details ist dieser vierte Band. Und wieder zeigt sich auch auf der epischen Langstrecke – manches ist sehr lang – die Lyrikerin. In ihrem Sinn für treffende Bilder, im Drang zur Verdichtung, in ihrer Verspieltheit. Zu regelrechten poetischen Aufschwüngen kommt es immer, wenn der Rhein ins Spiel kommt, der Dondorfer Rhein, «unberühmt und unbesungen», jener unauffällige Flussabschnitt, an dem sie sich schon zu Zeiten äusserster Bedrängtheit nach Anderswo träumen konnte, der sie an den Grossvater erinnert, den grossen Tröster der Kindheit.
«Wir werden erwartet» erzählt schliesslich auch von der Geburt der Lyrikerin Ulla Hahn. Gedichte, die sie später schrieb, waren schon in die ersten Bände eingeflossen; nun lesen wir vom Auftauchen der Poesie aus der Frustration wissenschaftlicher Prosa. Die ersten Fingerübungen, auf die Rückseite von Exzerpten zu ihrer Dissertation gekritzelt, sind «eine Erlösung nach dem wissenschaftlich verdrehten Deutsch, das ich mir abverlangte».
Die Fortsetzung des vierbändigen Entwicklungsromans der Ulla Hahn sind ihre Gedichtbände. Und nun auch ein episches Werk von hohem literarischen Rang und zeithistorisch einzigartiger Bedeutung.
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