Ein vernichtendes Urteil für Theresa May
17 Tage vor dem Brexit-Datum scheitert die Regierungschefin mit ihrem Deal spektakulär.

242 Unterhaus-Abgeordnete billigten gestern Abend den von Theresa May mit der EU ausgehandelten Austrittvertrag, aber 391 sprachen sich gegen ihn aus. Ihr vernichtendes Urteil fällten die Parlamentarier, obwohl May tags zuvor der EU noch neue «Zusicherungen» abgerungen hatte. Für die Tory-Hardliner und Nordirlands Unionisten war das nicht genug, um sie mit Mays Deal auszusöhnen. Und die Opposition will den Deal eh nicht. Sie baut darauf, dass sich als Alternative noch ein «weicher» Brexit oder ein neues Referendum durchsetzen lässt.
May reagierte enttäuscht. Sie hatte auf einen Stimmungsumschwung in letzter Minute gesetzt. Ihr ganzes Kalkül der letzten Monate bestand darin, genug «Rebellen» von allen Seiten zu sich herüberzuziehen. Und tatsächlich hatten sich im Laufe des Tages mehr und mehr in Panik geratene Tories zähneknirschend hinter ihren Deal gestellt.
«Echte Änderungen»
Einen Rückschlag erlitt May allerdings, als ihr schon vor Beginn der Brexit-Debatte ein Brief mit neunzehn Paragrafen auf den Schreibtisch gelegt wurde. Geschrieben hatte ihn Kronanwalt Geoffrey Cox, der Rechtsberater der Regierung, ein Minister mit Sitz im Kabinett. Dieser hatte sich in den letzten zwei Wochen im Auftrag von May in Brüssel aufgehalten, um die EU für eine Änderung des im Vorjahr ausgehandelten Austrittsvertrags zu gewinnen. Er sollte bestätigen, dass die «Vertragsänderungen», die May Montagnacht in Strassburg ausgehändigt wurden, echte Änderungen waren.
«Echte Änderungen» nämlich hatten die Tory-Brexiteers von May lautstark gefordert. Sie verlangten, dass Grossbritannien nicht auf potenziell unbegrenzte Zeit im verhassten Backstop, der Irland-Garantie des Vertrags, festgehalten werden kann.
Letzten November noch hatte Cox dem Unterhaus erklärt, dass das Vereinigte Königreich dem Backstop, so wie er angelegt war, ohne Erlaubnis der EU nie würde entrinnen können. Dieses Urteil hatte zur katastrophalen ersten Niederlage Mays bei der Abstimmung über ihren Deal im Januar, mit 202 gegen 432 Stimmen, geführt.
Die hektische Theatralik von Mays Blitztrip nach Strassburg erwies sich als nutzlose Liebesmüh.
Für einen Umschwung bei der gestrigen «zweiten Runde» war May darauf angewiesen, dass Cox seinen Rat änderte. Aber als der Anwalt sein Schreiben persönlich überbrachte, wurde schnell klar, dass sein Brief kein Freibrief für Theresa May war. Zwar erklärte Cox, das Risiko, dass das Vereinigte Königreich von der EU gegen seinen Willen auf Dauer zum Beispiel in der EU-Zollunion festgehalten werden könne, sei durch die Strassburger Vereinbarungen merklich «reduziert» worden. Eliminiert worden sei es freilich nicht: «Rechtlich gesehen, bleibt das Risiko unverändert bestehen.»
Als dieser Satz bekannt wurde, sackte das Pfund an den Börsen scharf ab. Denn Cox' nüchternes Urteil stand in scharfem Gegensatz zu den hoffnungsvollen Worten Mays bei ihrem Blitzbesuch in Strassburg am Montagabend. Dort hatte die Regierungschefin verkündet, sie habe «gesetzlich bindende Änderungen» erzielt, wie sie das Parlament von ihr erwartet habe. Die Backstop-Klausel im Austrittsvertrag sei effektiv entschärft worden. Die Abgeordneten könnten sich nun getrost hinter ihren Deal stellen, sagte sie.
«Nichts hat sich geändert»
Die «Daily Mail» sprach gestern gar von einem «Durchbruch», einem Verhandlungserfolg, der per Handkuss von Michel Barnier «besiegelt» worden sei. «May erhebt Anspruch auf Sieg», meldete respektvoll die «Times». Einige Blätter fügten allerdings auch zweifelnd hinzu: «Wird das reichen?» Denn viele Dutzend skeptischer Hinterbänkler hätte die Regierungschefin gestern überzeugen müssen, um den Vertrag doch noch durchs Parlament zu bringen. 118 Tories hatten im Januar gegen sie gestimmt.
Eine ganze Reihe ihrer Abgeordneten nahm die Zusicherungen vom Kontinent immerhin zum Anlass für einen persönlichen Kurswechsel. In wachsender Angst davor, dass es zu einem «No Deal»-Brexit käme, falls Mays Deal wieder scheitern sollte, signalisierten sie, dass sie May diesmal unterstützen würden.
Strassburg hat nichts geändert
«Ideal ist ihr Deal nicht», seufzte der Hinterbänkler Nigel Evans. Aber was könne man machen? Zwei Dutzend «Konvertiten» hatte man vorm Ende der Debatte gezählt. Bei der Abstimmung waren es noch ein paar mehr. Andere freilich fanden sich von Geoffrey Cox' Brief nur bestätigt in ihrer Ablehnung des May-Deals. Cox sei «brutal klar» gewesen, erklärte etwa der frühere Nordirlandminister Owen Paterson. Seine Tory-Kollegen Andrew Bridgen und John Whittingdale zuckten die Schultern: «Geändert hat sich durch Strassburg nichts.»
Dass der Austrittsvertrag weiterhin gilt, hatten zuvor schon EU-Kommission-Präsident Jean-Claude Juncker und Irlands Regierungschef Leo Varadkar betont. Die Strassburger Vereinbarungen «ergänzten» den Vertrag nur als «Klarstellungen», versicherten beide. Sie «ersetzten» den Backstop auf keinen Fall.
Eine selbst ernannte Anwaltsrunde der politischen Rechten unter Leitung des Anti-EU-Veteranen Sir Bill Cash forderte Parteigänger auf, gegen die Regierungsvorlage zu stimmen. Als dann auch noch die Partei der Demokratischen Unionisten (DUP) entschied, sie könne Mays Deal wieder nicht unterstützen, waren die Würfel gefallen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste selbst May befürchten, dass sich auch die hektische Theatralik ihres Blitztrips nach Strassburg als nutzlose Liebesmüh erwiesen hatte.
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