Ein völlig verrückter Tour-Tag
Alles wird auf den Kopf gestellt: Bernal löst Alaphilippe als Leader ab, die Etappe wird abgebrochen – und Pinot gibt verletzt auf.
Der Tag beginnt mit Tränen und der Tag endet mit Tränen. Die Tränen könnten unterschiedlicher nicht sein – und dazwischen liegen ein paar Rennstunden, die für diese ganze Bandbreite der Emotionen sorgen.
Die Tränen, sie gehen nahe, das sind rohe Emotionen in Grossaufnahme. Man weiss gar nicht, von wem sie sind, ob von Egan Bernal oder seiner Freundin, so eng ist die Umarmung, in der die beiden verharren, als er nach dem wohl turbulentesten Tag seiner Karriere im Etappenziel angekommen ist.
Dieser 22-jährige Junge aus Kolumbien drückt seine Freundin ganz fest an sich. Irgendwann lösen sie sich voneinander, feuchte Augen bei beiden. Er blinzelt zwei Mal, dann nimmt er die Treppe nebenan, tritt auf die Bühne und wird zum ersten Mal in seiner Karriere ins Maillot Jaune eingekleidet. Er ist nun Leader der Tour de France, zwei Etappen vor Paris.

Auch danach sagt er noch: «Ich kann es nicht glauben. Ich kann es nicht glauben.»
Er kann nicht glauben, weil die Dinge, die sich soeben ereignet haben, wirklich kaum zu glauben sind. Nicht Bernals früher Angriff, sechs Kilometer vor der Passhöhe des Col de l'Iseran, als Konter auf einen ersten Antritt von Teamkollege Geraint Thomas. Spielend distanziert er alle Mitfavoriten. Das entscheidende Detail dabei ist, dass der Gesamtführende Julian Alaphilippe das grosse Opfer von Bernals Offensive ist. Während die anderen Sieganwärter bis zur Passhöhe 1:03 Minuten verlieren, kassiert der Franzose 2:10 –der Kolumbianer überquert das 2770 Meter hohe Dach der Tour als virtueller Leader.
Zeitnahme auf dem Iseran
Zu dem Zeitpunkt kursieren schon erste Meldungen über ein schweres Gewitter in der Region von Val d'Isère, am Fusse der Steigung, in deren Richtung Bernal und Co. jetzt brausen. Kurz darauf der Jury-Entscheid: Etappe abgebrochen. Das Gewitter hat zu viel Schaden angerichtet, als dass noch an eine Fortführung der Etappe zu denken wäre: eine von Hagel bedeckte Strasse, in der das Wasser zum Teil bis zu 50 cm hoch steht, dazu ein Erdrutsch über die Strecke. Bezüglich der sportlichen Wertung entscheidet die Rennjury, dass es keinen Etappensieger gibt, fürs Gesamtklassement aber die Zeitabstände gewertet werden, mit denen die Fahrer den Col de l'Iseran überquerten. Kurz: Bernal ist von einem Moment auf den anderen definitiv der neue Leader der Tour, vor Alaphilippe und Teamkollege Geraint Thomas.
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Die Rundfahrt in Bildern: So verliefen die einzelnen Etappen
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Nur: Das muss erst einmal ihm und den anderen Fahrern vermittelt werden. Ungläubig reagieren diese auf den Entscheid, der ihnen über den Teamfunk und durch Handzeichen mitgeteilt wird. Einer will es nicht glauben: Bernal, der unbeirrt talwärts brettert, seinem grössten Erfolg entgegen. «Es wurde viel gesprochen auf dem Funk, auf Englisch. Dann bat ich darum, dass man mir den Entscheid auf Spanisch wiederholte. Erst dann hielt ich an. Als ich ins Teamauto stieg, wusste ich, dass ich Gelb hatte. Aber geglaubt habe ich es erst, als ich das Trikot erhalten habe», sagt Bernal.
Viertjüngster Sieger
Er weiss sehr gut, dass er, wenn nicht viel schief läuft, die Führung am Samstag auf der wegen einer weiteren Schlammlawine verkürzten Etappe hinauf nach Val Thorens verteidigen und damit die Tour gewinnen wird. Mit 22, als viertjüngster Fahrer der Geschichte und als erster Kolumbianer.
Bereits am Freitag wurden Fans am Streckenrand von einer Schlammlawine überrascht. (Video: Twitter)
Nichts wird es mit dem ersten Sieg für die Franzosen seit 34 Jahren. Thibaut Pinot weint nicht deswegen, seine Tränen haben einen viel bittereren Grund. Er weint sie ganz zu Beginn der Etappe, als eigentlich noch alles denkbar ist: Gar er als Tour-Sieger? Doch dann fällt er im Feld zurück, kein Teamkollege wartet auf ihn. Sie wissen, was los ist – wenig später alle anderen auch. Er hat starke Schmerzen im Oberschenkel, irgendwann hält er an, steigt in ein Teamauto, Tränen der Enttäuschung fliessen beim Gesamtfünften.
Pinots bitterer Irrtum
Wie sich herausstellt, prallte er am Mittwoch bei einem Ausweichmanöver mit dem Oberschenkel in den Lenker und zog sich dabei eine Muskelverletzung zu. Diese brach bereits auf der Galibier-Etappe auf, danach konnte er kaum mehr Treppensteigen.
Thibaut Pinot muss wegen seiner Muskelverletzung aufgeben. Ein ganz bitterer Moment für den Mitfavoriten. (Video: SRF)
Am Freitagabend spricht er im Teamhotel, es schüttelt ihn erneut durch, als er gefragt wird, ob dies die grösste Enttäuschung seiner Karriere sei: «Seit den Pyrenäen war ich überzeugt, ich könne es machen, nichts könne mir passieren.» Er täuschte sich.
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