Ein zäher Rest Protest
Graffiti und eine zugemauerte Auffahrt: Bei Winterthur sind bis heute Spuren des Streits um die Weinlandautobahn sichtbar. Jetzt quält eine neue Autobahnfrage die Region.
«Seid nicht stur»: Der Spruch in weissroter Farbe prangt an einem Holzschopf in Oberohringen bei Winterthur. Etwas weiter stadteinwärts steht auf einer Stützmauer bei der Autobahneinfahrt nach Zürich: «N 4 – spinnt ihr?». Die beiden Wandsprüche, etwas vergilbt zwar, sind Relikte des jahrzehntelangen, teils heftigen Protests gegen die Weinlandautobahn N 4 in den 80er-Jahren.
Die vom Bundesrat 1973 festgelegte Linienführung westlich der SBB-Linie Winterthur-Andelfingen stiess auf starken Widerstand von Naturund Landschaftsschützern und von vielen Bauern. Sie wollten das Kulturland schützen. Umgekehrt drängten die vom Durchgangsverkehr geplagten Dörfer Oberohringen (Gemeinde Seuzach) und Hettlingen auf eine Umfahrung. Erst 1988 fällte der Regierungsrat den Grundsatzentscheid für die heutige Linienführung der A 4 mit der weiträumigen Umfahrung von Hettlingen und Oberohringen. 1996 wurde die zweispurige Autostrasse eröffnet.
Bis zur Eröffnung der Weinlandautobahn litten die Bewohner Oberohringens stark unter der Verkehrslawine, wie Simon Wittwer sagt. Er ist in Oberohringen, direkt an der Durchgangsstrasse aufgewachsen und betreibt heute dort ein Motorradgeschäft. Er erinnert sich, wie sich jeden Abend eine Autound Lastwagenkolonne im Schritttempo von der Kreuzung Wiesental her – im Volksmund «einziges Rotlicht zwischen Hamburg und Sizilien» genannt – mitten durch das Dorf gewälzt habe bis zur Einfahrt zur Autobahn Richtung Zürich und St. Gallen. Die NZZ berichtete 1982 von unzumutbarem Lärm in Hettlingen und Oberohringen: Die Grenzwerte würden nicht nur überschritten, die Immissionen «bewegen sich dort sogar nahe bei der Alarmstufe».
Leintücher vor den Fenstern
Den Spruch «Seid nicht stur» hatten Autobahngegner irgendwann in den 80er-Jahren auf den Holzschopf gemalt – «in einer Nacht-und-Nebel-Aktion», wie Simon Wittwer sagt. Was genau die Worte bedeuten sollten, ist heute unklar. Offenbar wollte man die Ohringer von ihrem Beharren auf einer Umfahrung und damit einer Autobahn abbringen. Überlebt hat die Parole nur, weil sie jahrzehntelang von einer Werbetafel abgedeckt war, wie Wittwer sagt. Sonst wäre sie völlig vergilbt und nicht mehr lesbar.
Es waren nicht die einzigen Schmierereien, die Autobahngegner in jenen Jahren in Oberohringen anbrachten. «N 4 – nie!» pinselten Unbekannte etwa auf eine Mauer beim Autobahnanschluss. Diese Parole ist heute kaum mehr erkennbar. Seines Wissens wurden damals keine Strafanzeigen wegen der Sprayereien eingereicht, sagt Wittwer. Dafür wehrten sich die Ohringer auf eigene Art: Sie brachten vor den Fenstern ihrer Häuser Leintücher an, auf die sie Protestparolen gegen den Durchgangsverkehr gepinselt hatten.
Streit um Lärmschutzwälle
Jetzt beschäftigt die Autobahnfrage die Gegend erneut, wenn auch auf andere Art. Der 9,2 Kilometer lange Abschnitt der A 4 zwischen Winterthur-Nord und Kleinandelfingen soll richtungsgetrennt auf vier Spuren ausgebaut werden. Das Projekt des Bundesamts für Strassen (Astra) fand zwar breite Zustimmung, dennoch gab es in der Vernehmlassung im Februar 2016 rund 50 Einsprachen, darunter mehrere gegen den Rückbau der Erdwälle für den Lärmschutz. Besonders umstritten ist deren Beseitigung in Hettlingen. Dort haben fast 1800 Personen eine Petition für den Erhalt des Lärmschutzwalls unterzeichnet und Anfang Juli dem Gemeinderat überreicht. Bedenken wegen des Lärmschutzes gibt es auch in Adlikon bei Andelfingen.
Jetzt steht fest: Der Ausbau der A 4 auf vier Spuren kann frühestens 2021/22 beginnen. Astra-Sprecherin Karin Unkrig bestätigt einen Bericht des «Landboten». Als Gründe nennt sie aufwendige Einsprachebehandlungen und Verfahrensschritte sowie zusätzliche Feldaufnahmen im Bereich Umweltschutz sowie deren nachfolgende Auswertung.
Die Verzögerung hat im Frühling bereits Kantonsräte von FDP und SVP auf den Plan gerufen. Es sei unbefriedigend, dass rund 90 im Namen des Kantons Zürich eingereichte Anträge die Realisierung des Projekts verzögern, kritisierten sie in einer Anfrage an die Regierung. Dabei sei die Beseitigung dieses Verkehrsengpasses aus wirtschaftlicher und standortpolitischer Sicht von hoher Bedeutung für den Kanton Zürich, stelle die A 4 doch die «wichtigste Verkehrssachse zum Wirtschaftsraum Baden-Württemberg» dar.
Autobahneinfahrt als Lagerplatz
Zu Protesten und Sprayereien wie in den 80er-Jahren hat der jetzt geplante A4-Ausbau bisher nicht geführt. Dafür gibt es in Oberohringen noch ein weiteres kurioses Überbleibsel des seinerzeitigen Konflikts: Die 1996 aufgehobene Autobahnauffahrt Richtung Zürich ist bis heute erhalten geblieben – eine Art Denkmal für das Ende des Autobahnstreits. Der ausrangierte Anschluss ist gegen das Dorf hin mit einem Gitter und einer Hecke abgesperrt, die Zufahrt zur A 1 verbarrikadiert eine Lärmschutzwand. Das Strassenstück gehört dem Bund und dient als Lagerfläche für Bauund Absperrmaterial für den Nationalstrassenunterhalt. Pläne, das Strassenstück zu überbauen oder zu rekultivieren, gibt es laut dem Bundesamt für Strassen aktuell nicht.
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