Eine «Anti-Dick-Marty-Koalition» in Kosovo
Im Zwergstaat Kosovo bilden ehemalige Guerillakämpfer eine unerwartete Wahlallianz, um alle Macht an sich zu reissen. Dahinter steckt die Angst vor der internationalen Justiz.

Rausschmeisser müssen skrupellos sein. Der kosovarische Politiker Ramush Haradinaj hat in den 90er-Jahren in der Westschweiz als Türsteher gearbeitet. In seiner Heimat geniesst der breitschultrige Mann Heldenstatus, weil er gegen die serbische Staatsmacht gekämpft hat. Er stand zweimal vor dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, und zweimal wurde er freigesprochen: Die Zeugen zogen zitternd ihre Aussagen zurück, die Ankläger verzweifelten, allen voran die Schweizerin Carla Del Ponte. Zuletzt weigerte sich die französische Justiz, Haradinaj nach Serbien auszuliefern.
Kaum nach Pristina zurückgekehrt, hat der ehemalige Guerillaführer nochmals seine Skrupellosigkeit unter Beweis gestellt: In der Nacht auf Mittwoch schloss er ein völlig unerwartetes Wahlbündnis mit der sogenannten Demokratischen Partei Kosovos (PDK); sie ist wie Haradinajs «Zukunftsallianz» (AAK) ein Sammelbecken der ehemaligen Kämpfer der Befreiungsarmee UCK. Die vorgezogenen Wahlen in Kosovo finden am 11. Juni statt, nachdem vergangene Woche die Regierung die Mehrheit im Parlament verloren hat.
Kriegsverbrechen gegen Zivilisten?
Haradinaj hatte bisher die regierende PDK des amtierenden Staatschefs Hashim Thaçi als Ursprung allen Übels bezeichnet, ihr Korruption und Verrat nationaler Interessen vorgeworfen. Zusammen mit der linksnationalistischen Oppositionspartei Vetëvendosje («Selbstbestimmung») legte der Ex-Warlord seit 2014 das Parlament mit Tränengasattacken lahm – aus Protest gegen den Grenzvertrag mit Montenegro. Er beschuldigte die Regierung, sie habe schlecht verhandelt und 8000 Hektaren Weiden und Wälder dem Nachbarland zugeschlagen. Mit einem Panthergrinsen im Gesicht beschimpfte Haradinaj die Mitglieder der Grenzkommission als «Päderasten».
Nun haben sich die ehemaligen Guerillakämpfer zusammengetan, um alle Macht an sich zu reissen, die Kriegsbeile sind vorläufig begraben. Der Grund dafür ist die Angst vor der internationalen Justiz. Diese hat der ehemalige Europarat-Berichterstatter und FDP-Ständerat Dick Marty ins Spiel gebracht. In einem 2010 veröffentlichten Bericht warf er der UCK-Führung vor, Kriegsverbrechen an serbischen Zivilisten und Roma begangen zu haben. Zudem hätten die selbst ernannten Befreier auch kosovo-albanische Kritiker umgebracht. Darunter sind auch Dutzende hochrangige Funktionäre der Demokratischen Liga Kosovos (LDK) des langjährigen Präsidenten Ibrahim Rugova.
Das dunkle Kapitel der jüngsten kosovarischen Geschichte ist noch nicht aufgearbeitet, weil die UCK-Führer laut glaubwürdigen Berichten die Zeugen eingeschüchtert oder sogar getötet haben. Die EU und die USA, aber auch viele westliche Medien haben darüber entweder geschwiegen oder die Haudegen toleriert – solange diese eine oberflächliche Stabilität in Kosovo garantiert haben.
Kosovo könnte auseinanderfliegen
Dick Martys Bericht hat jedoch Brüssel und Washington gezwungen, endlich zu handeln. Ein Sondertribunal wurde gegründet, die ersten Anklagen sollen noch in diesem Jahr folgen. Niemand weiss, welche UCK-Führer Kosovo bald in Handschellen verlassen werden. Angst haben sie aber alle – vom Staatspräsidenten Hashim Thaçi bis zum PDK-Chef Kadri Veseli, der während und nach dem Krieg den höchst umstrittenen UCK-Geheimdienst Shik leitete. In Martys Bericht kommen neben Thaçi und Veseli auch Xhavit Haliti und Azem Syla vor. Sie alle haben in den 90er-Jahren in der Schweiz gelebt und werden von lokalen Medien als die «Swiss Connection» bezeichnet, die nach der Befreiung Kosovos durch die Nato das kleine Land mutmasslich ausgeplündert hat. In der Schweiz machte in den letzten Jahren vor allem Azem Syla Schlagzeilen – als Sozialhilfebetrüger im Kanton Solothurn.
In den sozialen Medien ist nun die Rede von einer «Anti-Dick-Marty-Koalition» in Kosovo. Diese Allianz, so der Politologe Shkelzen Gashi, könnte auch mit Unterstützung der westlichen Diplomaten zustandegekommen sein. Denn nur eine aus ehemaligen UCK-Kommandanten getragene Regierung könne garantieren, dass das Land nicht in die Luft fliege, wenn die ersten Anklagen aus Den Haag eintreffen.
Zeugen müssen oft um ihr Leben fürchten
Ob das Kalkül aufgeht, bleibt abzuwarten. Ein aus früheren Kämpfern bestehendes Kabinett könnte die Arbeit der internationalen Justiz sabotieren – zum Beispiel durch die Einschüchterung von Zeugen. Der monegassische Abgeordnete Jean-Charles Gardetto hat 2011 für den Europarat den Zeugenschutz auf dem Balkan untersucht. Sein Fazit: In Kosovo müssen die Zeugen oft um ihr Leben fürchten. Als letzte Woche die von der moderaten Demokratischen Liga (LDK) angeführte Regierung durch einen Misstrauensantrag gestürzt wurde, wandte sich eine Abgeordnete der UCK-Nachfolgepartei PDK an zwei Volksvertreter mit einer offenen Drohung: Man habe gehört, dass sie Zeugen des Sondertribunals seien. Die Botschaft galt auch den geschützten Zeugen, einige von ihnen befinden sich derzeit in Westeuropa.
Die panikartige Bildung der Wahlallianz zwischen den Rebellenparteien erfolgte, nachdem zuletzt immer klarer geworden war, dass die im Korruptionssumpf versunkene Demokratische Partei Kosovos die Wahlen nicht alleine gewinnen kann. Auch die neue Regierung wird vor den gleichen Herausforderungen stehen wie die bisherige: Sie muss eine Lösung für den Grenzverlauf zu Montenegro finden und eine Teilautonomie für die serbischen Gemeinden im Parlament durchbringen. Mit ihm als Ministerpräsidenten werde man so etwas nicht zulassen, drohte Ramush Haradinaj gestern. Opfer dieser Ränkespiele sind die Bürger Kosovos: Solange der Grenzvertrag mit Montenegro nicht unter Dach und Fach ist, dürfen die Kosovaren nicht visumsfrei in den Schengen-Raum einreisen.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch