Eine Art Europaallee für Arme
Weitgehend unbeachtet, entsteht in Zürich-Nord eine rekordverdächtige Siedlung voller gemeinnütziger Wohnungen.
Es ist ein Rätsel, warum viele Zürcher nicht wissen, was für ein gigantisches Bauvorhaben die Stadt da vorantreibt. Ein komplett neues Quartier voller gemeinnütziger Wohnungen, dominiert von drei Hochhäusern, die bis zu 70 Meter hoch werden. Plus Park, Schulhaus, Alterszentrum, Gewerbe. Vielleicht liegt es ja daran, dass das Projekt bisher keinen evokativen Namen hat, sondern nur nach der Strasse in Seebach benannt ist, an der es zu stehen kommt: Thurgauerstrasse. Das klingt in städtischen Ohren nach Provinz, nach «Mostindien», nach weit, weit weg.
65'000 Quadratmeter umfasst das städtische Areal, auf dem derzeit noch Schrebergärten stehen. Genug Platz, um zehnmal die genossenschaftliche Kalkbreite-Siedlung oder die neue städtische Siedlung Kronenwiese unterzubringen. Von den Dimensionen her ist das die Kategorie Europaallee. Diese ist zwar mit 78'000 Quadratmetern noch ein Stück grösser, aber weniger hoch.
Der wesentliche Unterschied ist: Während die SBB in Stadtzentrum vor allem Wohnungen im Hochpreissegment anbieten, lässt die Stadt in Seebach ausschliesslich solche fürs Durchschnittsportemonnaie realisieren. Ein Drittel davon wird subventioniert sein, damit auch Menschen mit wenig Geld ein zu Hause finden – im direkten Vergleich wird das also eine Art Europaallee für Arme.
Gigantismus löst Ängste aus
Es ist dieser Gigantismus, vor dem sich die unmittelbaren Anwohner in ihren Einfamilienhäusern mit Rasen und Thujahecken fürchten. Sie werden eingeklemmt zwischen den Neubauten und der Eisenbahnlinie. Deshalb dürfte es sie besonders interessieren, was der Zürcher Stadtrat heute Mittwoch über den aktuellen Projektstand zu berichten hatte: darüber, inwiefern er die Gestaltungspläne aufgrund der mehr als zweihundert Einwendungen aus der Nachbarschaft angepasst hat.
Im Grundzug hat sich nichts geändert: Was auf dem Areal entsteht, wird einen ganz anderen Massstab haben als das angrenzende Einfamilienhausquartier. Es handelt sich um eine der grössten Baulandreserven der Stadt, weshalb sie laut Stadtrat wichtig ist für die innere Verdichtung Zürichs, die auch Bund und Kanton verlangen.
Allerdings gibt es Anpassungen, die dem Projekt die Spitze nehmen sollen. Laut Hochbauvorsteher André Odermatt (SP) wird die Gebäudehöhe auf der Seite, die den Einfamilienhäusern zugewandt ist, um ein Stockwerk reduziert. Sie beträgt jetzt noch drei bis fünf Geschosse. Zudem müssen die Höhen variieren und die Fassaden vor- und zurückspringen, damit nicht der Eindruck eines Riegels entsteht. Weitere Zugeständnisse sind der mögliche Erhalt dreier Altbauten, darunter ein Schützenhaus.
Günstig, ökologisch, autoarm
Mindestens so wichtig wie zur innerstädtischen Verdichtung ist das Projekt für den Stadtrat auch in anderer Hinsicht. Es bietet ihm die Möglichkeit, gleich mehrere Vorgaben der Stimmberechtigten mit grosser Geste umzusetzen: Läuft alles nach Plan, kann er so bis zum Jahr 2025 den Anteil gemeinnütziger Wohnungen deutlich erhöhen – rund 1800 Personen sollen hier in 700 Wohnungen Platz finden. Er kann zudem ein Vorzeigeprojekt für die 2000-Watt-Gesellschaft realisieren. Und er kann autoarm bauen, wie dies der Gemeinderat angeregt hat. Bis zum Bahnhof Oerlikon sind es nur wenige Minuten Fussweg.
Die Wohnbauten werden gut die Hälfte des Areals in Anspruch nehmen, wobei die Stadt einen Teil davon selbst realisieren will. Den anderen Teil wird sie an Wohnbaugenossenschaften oder Stiftungen vergeben. Obwohl Hochhäuser als teure Lösung gelten, soll es laut Finanzvorsteher Daniel Leupi möglich sein, auch in den Türmen preisgünstige Wohnungen anzubieten. Als Beweise dafür sieht er die bestehenden Hochhäuser im Lochergut, der Hardau und in Unteraffoltern.
Widerstand auch von links
Ob die Anwohner ihren Protest weiterziehen, ist noch offen, erste Anzeichen deuten aber darauf hin. Widerstand dürfte dem Stadtrat auch aus dem linken Spektrum erwachsen, das solchen Projekten sonst wohlwollend gegenübersteht. Die Alternative Liste (AL) kritisiert, dass die Ausnutzung an der Thurgauerstrasse extrem hoch sei – was die Partei in eine ungewohnte Nähe zu den Anliegen der Einfamilienhausbesitzer und zur SVP bringt. Die Stadt gehe noch ein gutes Stück weiter als die Bauherren im Zollfreilager, das bereits sehr dicht wirke. Die Höfe seien zu eng, es fehle an Licht.
Die AL ist auch skeptisch, ob sich die Erdgeschosse wirklich beleben lassen, wie dies dem Stadtrat vorschwebt. Laut Leupi sollen dort publikumsorientierte Betriebe einziehen. Die Stadt werde ihren Teil dazu beitragen, indem sie die Mietzinse tief halte – ähnlich wie die SBB in der Europaallee, die so die Attraktivität auf Strassenniveau steigerten. Es gibt in der Stadt allerdings auch zahlreiche Negativbeispiele. In Zürich-West etwa wurden leerstehende Erdgeschosse in Büros umgewandelt. Dies könnte in Seebach schwierig werden, denn im Stadtkreis 11 und im angrenzenden Opfikon stehen laut dem Immobilienberater JLL gegenwärtig über 150'000 Quadratmeter an Büroraum leer.
Geht es nach dem Willen des Stadtrats, treten die Gestaltungspläne in etwa zwei Jahren in Kraft. Danach könnten die Baurechte vergeben werden, frühestens im Jahr 2023 die Baumaschinen auffahren. Schulhaus und Park sollten zu diesem Zeitpunkt schon fast fertig sein, zugunsten der neuen Siedlungen auf der anderen Seite der Thurgauerstrasse. Die Kredite dafür sollen im Herbst 2020 vors Volk kommen, danach wird gebaut.
Der Grössenvergleich:

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