Eine Ikone in der Krise
Jahrelang haben Migros und Coop beim britischen Supermarkt Tesco abgekupfert, einer Ikone in der Branche. Jetzt steckt das Unternehmen in der Krise. Was das für die Branche bedeutet.
Der luxuriöse Firmenjet hätte ein Indiz dafür sein können, dass etwas schief läuft bei Tesco. Mitten in der Finanzkrise, im Mai 2008, hob die Gulfstream G550 das erste Mal ab. Seit letztem Herbst ist sie wieder zum Verkauf ausgeschrieben.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der grösste britische Detailhändler bereits die dritte Gewinnwarnung publiziert und eine Untersuchung wegen Bilanzfälschung am Hals. Und das waren nicht die letzten schlechten Nachrichten: 6,4 Milliarden Pfund – 9,1 Milliarden Franken – Verlust hat Tesco im letzten Jahr gemacht (ohne Steuergutschriften). Summen, wie man sie in den letzten Jahren ab und zu gehört hat – allerdings von Banken, die sich an der Börse mit komplizierten Hebelprodukten oder Hypothekenderivaten verspekuliert haben. Und nicht von Detailhändlern, die traditionell mit dünnen Margen operieren.
Der grösste Teil des Verlusts ist einem Abschreiber geschuldet: Weil sich die Einkaufsgewohnheiten verändert haben, rentieren die grossflächigen Supermärkte an den Stadträndern nicht mehr so, wie sie sollten. Folglich sind auch die Ladenflächen weniger Wert - und zwar 4,7 Milliarden Pfund. Und das zeigt auch gleich, wo das eigentliche Problem liegt: Das Geschäft des Detailhändlers läuft weniger gut als früher. Seit der Finanzkrise haben die Discounter Aldi und Lidl, die schon seit über 20 Jahren in Grossbritannien um Marktanteile kämpfen, plötzlich Aufwind. Derart unter Druck musste Tesco die Preise senken. Und das drückt auf die Margen.
Studienreisen zu Tesco, um die Trends zu finden
Das wahre Ausmass der Misere blieb aber lange unentdeckt. Unter anderem, weil das alte Tesco-Management den Gewinn geschönt haben soll. Die Praxis flog letztes Jahr nach einem Chefwechsel auf und soll gemäss jüngsten Informationen aus den laufenden Untersuchungen zwei Jahre zurückreichen.
Für viele Briten, aber auch die weltweite Branche, ist der tiefe Fall von Tesco ein Schock. Das beinahe 100-jährige Unternehmen hat sich ab Mitte der Neunzigerjahre zur Ikone hochgearbeitet, 2006 war die Kette unangefochtener Marktführer in Grossbritannien – und mit einem Marktanteil von über 30 Prozent mehr als doppelt so gross wie der nächst grössere Konkurrent. Es folgte eine Expansion ins Ausland, bis Tesco es weltweit zur Nummer 3 im Detailhandelsgeschäft brachte. Regelmässig pilgerten Detailhandels-Manager aus der ganzen Welt nach Grossbritannien, um bei Tesco die Trends zu studieren – und abzukupfern.
Cumulus, Fine Food, M-Budget, Coop Pronto
Tesco war einer der ersten Detailhändler, der die wahre Bedeutung von Kundenkarten im Zeitalter von Big Data verstand – und zwar bevor der Begriff, der fürs Sammeln und Verarbeiten von grossen Datenmengen steht, überhaupt geprägt war. Schon vor zehn Jahren, also 2005, wertete Tesco Informationen über das Einkaufsverhalten der damals 10 Millionen Mitglieder systematisch aus und schickte ihnen viermal pro Jahr Werbung – zugeschnitten auf ihr Einkaufsverhalten. Detailhändler auf der ganzen Welt haben das kopiert und nutzen die Daten heute auch, um ihr Angebot zu personalisieren. Auch Migros und Coop mit Cumulus und Supercard.
Auch bei der Sortimentsgestaltung hat Tesco neue Standards gesetzt. Im Kampf gegen die deutschen Discounter Aldi und Lidl, die beide schon seit über 20 Jahren in Grossbritannien um Marktanteile ringen, führte der Supermarkt erst eine eigene Billiglinie und später eine Premiummarke ein – Value und Finest. In der Folge führten auch Migros und Coop erst M-Budget und Prix Garantie ein und setzten später auf M-Selection und Fine Food – wobei Coop bei seiner Fine-Food-Marke nicht nur das Konzept übernahm, sondern Marke und Verpackungen auch gleich optisch kopierte.
Der mit Abstand grösste britische Detailhändler stand auch Pate für Formate wie Coop Pronto oder Migrolino. Er verstand früh, dass grossformatige Supermärkte die Bedürfnisse einer städtischen Bevölkerung, die abends noch schnell einkaufen muss, nicht mehr erfüllen und setzte darum auf Einkaufstempel mit riesiger Auswahl in den Agglomerationen und kleinen Geschäften unter der Bezeichnung Tesco Express oder Tesco Metro in den Zentren. Parallel dazu war Tesco ein Pionier im Bereich Onlineshopping.
Viele Ähnlichkeiten – und ein wichtiger Unterschied
Migros und Coop dürfte der plötzliche Fall von Tesco darum zumindest kalte Schauer über den Rücken jagen. Genau wie die Briten sind die beiden Schweizer Supermarktketten unangefochtene Marktführer. Wie den Briten ist es ihnen gelungen, die Expansion der deutschen Discounter bislang unter Kontrolle zu halten. Und genau wie Tesco spüren sie derzeit, dass das Klima rauer und der Preiskampf härter wird. Allerdings ist daran in der Schweiz nicht die Krise schuld, sondern der Franken.
Im Unterschied zu Grossbritannien wirkt sich der Einkaufstourismus aber nicht nur auf die Marktführer aus. Aldi und Lidl sind in Grenznähe mindestens genauso davon betroffen. Mehr als die Furcht, es könnte sie das gleiche Schicksal wie Tesco treffen, dürfte Migros und Coop daher die Frage beschäftigen, woher sie in Zukunft ihre guten Ideen nehmen.
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