Eine Liebesgeschichte wird zu einer Höllenfahrt
Krimi der Woche: Der amerikanische Bestsellerautor Dennis Lehane schuf mit «Der Abgrund in dir» einen epischen Psychothriller aus dem Blickwinkel einer Frau.

Der erste Satz
An einem Dienstag im Mai, im Alter von sechsunddreissig Jahren, erschoss Rachel ihren Mann.
Das Buch
Die Mutter von Rachel Childs hat einen berühmten Ratgeber geschrieben, wie man erfolgreich verheiratet bleibt. Selber war sie zwar nie verheiratet. Und ihrer Tochter wollte sie nicht einmal sagen, wer ihr Vater ist. Männer seien Lügner, warnte sie ihre Tochter.
Die 36-jährige Rachel Childs erschiesst im ersten Satz des Thrillers «Der Abgrund in dir» von Dennis Lehane ihren Ehemann. Dann blendet der amerikanische Erfolgsautor, der erstmals einen Roman aus der Sicht einer Frau erzählt, weit zurück. Kindheit und Erwachsenwerden, Studium, der Tod der Mutter, Panikattacken. Die Suche nach dem Vater. Eine erste Ehe. Rachel wird eine erfolgreiche Journalistin. Bis ein Nervenzusammenbruch bei einer Liveschaltung aus Haiti nach dem grossen Erdbeben ihre Karriere ebenso beendet wie ihre Ehe. Rachel zieht sich zurück. Eines Tages begegnet sie dem attraktiven Brian, den sie vor Jahren als Privatdetektiv mit der Suche nach ihrem Vater beauftragt hatte. Er ist inzwischen erfolgreicher Geschäftsmann. Die beiden werden ein Paar, Brian kümmert sich liebevoll um Rachel, hilft ihr, ihre Ängste zu überwinden.
Aber was weiss sie eigentlich über Brian? Irgendwie bleibt er unfassbar. Er ist viel unterwegs in der ganzen Welt, wo er seinen Geschäften nachgeht. Doch eines Tages sieht Rachel ihn, nur ganz flüchtig, in Boston, als er im Flugzeug nach London sitzen sollte. Zur Rede gestellt, meinte er, das müsse ein Doppelgänger gewesen sein. Doch Rachel ist misstrauisch geworden und beginnt, ihm nachzuspionieren. Was die kleine Welt, in der sie es sich gerade gemütlich gemacht hat, zum Einsturz bringt wie das Erdbeben die Städte in Haiti.
Was, trotz beunruhigenden Untertönen, über mehrere Hundert Seiten vor allem wie eine schöne, etwas betuliche Liebesgeschichte gewirkt hat, wird zu einem Drama um Lügen und Verrat. Und gekonnt lässt Lehane die Geschichte, die gemütlich wie eine schöne Ausfahrt aufs Land daherkam, Tempo aufnehmen; sie wird zu einer abenteuerlichen Höllenfahrt. Die über lange Zeit so unsichere Rachel wächst dabei über sich hinaus. Zumindest vermag sie die starke Frau darzustellen, auch wenn in ihr immer noch viele Zweifel nagen.
Rollen und Identitäten sind ein zentrales Thema dieses Psychothrillers. Und dies in verschiedener Hinsicht. Bei Rachel deckt sich die tatsächliche Identität nur teilweise mit der, die sie sich vorstellt. Und auf der anderen Seite spielt Brian, dem als junger Schauspielschüler nur das Regieführen noch mehr Spass machte als das Rollenspiel, offenbar ein teuflisches Spiel mit falschen Identitäten.
Die Wertung
Der Autor
Dennis Lehane, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, besuchte die Boston College High School und das Eckerd College in St. Petersburg, Florida. Er arbeitete unter anderem als therapeutischer Berater für geistig behinderte und sexuell missbrauchte Kinder, als Kellner, Limousinenchauffeur, Parkplatzwächter, in Buchläden und als Erntehelfer. Da er Schriftsteller werden wollte, studierte er Creative Writing an der Florida International University. 1990 schrieb er seinen ersten Roman «A Drink Before War» («Ein letzter Drink»), der 1994 erschien. Mehrere seiner bisher mehr als ein Dutzend Romane sind Bestseller und wurden von berühmten Regisseuren erfolgreich verfilmt: «Mystic River» (Regie: Clint Eastwood»), «Gone Baby Gone» (Regie: Ben Affleck), «Shutter Island» (Regie: Martin Scorsese) und «Live By Night» (Regie: Ben Affleck). Er schrieb auch Drehbücher, so für den Film «The Drop» (Regie: Michaël R. Roskan) und für ein paar Folgen der TV-Serie «The Wire». Dennis Lehane lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Los Angeles und in Boston.

Dennis Lehane: «Der Abgrund in dir» (Original: «Since We fell», Ecco, New York 2017). Aus dem Englischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg. Diogenes, Zürich 2018. 527 S., 34 Fr.
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