Eine so epochale Erfindung wie einst der Buchdruck
Vor 14 Jahren erschuf Mark Zuckerberg Facebook. Seither pflügt sein Werk die Medienlandschaft um – ähnlich wie Johannes Gutenbergs Erfindung vor ihm.

Nur mal angenommen, Johannes Gutenberg hätte nie gelebt und auch sonst wäre keiner auf die Idee gekommen, den Buchdruck zu erfinden, zumindest in seinem 15. Jahrhundert nicht. Wäre das nicht ein Segen gewesen für die Menschheit, damals?
In Mainz macht immer um neun Uhr am Morgen das Gutenberg-Museum auf, und es ist dann gleich gut gefüllt. Die eine Schulklasse lärmt im Foyer und wird zurechtgewiesen, die andere bekommt eine Einführung in die frühe Drucktechnik. Heute gilt Bücherlesen ja als Wert an sich; wenn man über jemanden sagt, er sei ein Büchermensch, ist das immer als Kompliment gemeint. Aber war dies abzusehen, als Johannes Gutenberg, geboren um 1400 in Mainz und dort auch vor 550 Jahren gestorben, den Buchdruck erfand?
Ungefähr 1450 soll dies gewesen sein, und wenn man mit Cornelia Schneider spricht, der Kuratorin für Buchkunst des Museums, erzählt sie, wie der Buchdruck zunächst den damals Herrschenden half, vor allem der Kirche. Anderthalb Jahrtausende lang hatte sie versucht, eine einheitliche Bibel herauszugeben. Nun endlich war es möglich. Und dann die Prunksucht der Päpste: Mit Ablassbriefen wurde sie finanziert. Die Menschen kauften der Kirche diese Briefe ab, oft zum Preis eines Monatslohns, in der Hoffnung, dem Fegefeuer zu entgehen – und warum wohl florierte der Handel damit gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts? Im Ausmalen der drastischen Folgen, was ohne Ablass passiert, waren die Kirchenherren ja schon immer talentiert. Doch erst jetzt konnten sie über Nacht Hunderte neue Briefe herstellen, per Druck. Cornelia Schneider sagt: «Für den Ablasshandel war der Buchdruck ein Segen!»
Zeit, um sich ans Neue zu gewöhnen
Und – schlimmer noch – auch für die Hexenverfolgung. Einer ihrer Wegbereiter war der Inquisitor Henricus Institoris. Um 1486 verfasste der führende Theoretiker der Hexenverfolgung sein Hauptwerk, den «Hexenhammer». Zum Beschleuniger der damaligen Raserei konnte der Ratgeber zur Hexenerkennung nur werden, weil er nicht mehr nur eine Handschrift war, sondern weil er gedruckt werden konnte, 30 000Exemplare.
Mark Zuckerberg bekam von der Zeitung «Welt am Sonntag» die Frage gestellt, was seine Erfindung Facebook wohl noch alles anrichten werde in der Welt; ob sie sich, alles in allem, als eine Verheerung oder doch noch als Segen erweisen werde. Das war vor zwei Jahren, lange vor dem Datenskandal von Facebook, und lange bevor der Aktienkurs der Social-Media-Plattform abstürzte. Zuckerberg antwortete damals mit einem historischen Vergleich; er nahm aber nicht das 15., sondern ein späteres Jahrhundert: «Die aktuelle Diskussion erinnert mich daran, dass man im 18. Jahrhundert zusammengesessen und sich gesagt hat: Oh, eines Tages haben wir vielleicht Flugzeuge, und sie könnten abstürzen. Dennoch hat man erst die Flugzeuge konzipiert und sich dann um Flugsicherheit gekümmert. Wenn man sich zuerst um die Sicherheit sorgte und alle Probleme lösen wollte, würde man nie ein Flugzeug entwickeln.»
Ein Vergleich zwischen Zuckerberg und Gutenberg liegt nicht deshalb nahe, weil die beiden Namen so schön ähnlich sind. Und er ist nicht deshalb absurd, weil es erst anderthalb Jahrzehnte her ist, dass Zuckerberg die Idee zu Facebook hatte. Zwar ist ein solcher Zeitraum eigentlich viel zu kurz, um diesen Mann in Relation zu setzen zu demjenigen, der in der Renaissance die bedeutendste Erfindung des zweiten Jahrtausends machte. Aber: Zuckerbergs Erfindung könnte sich als ähnlich weltstürzend erweisen wie jene Gutenbergs. Die Folgen seiner Erfindung kann er täglich erleben, anders als einst Gutenberg.
Gutenbergs Erfindung veränderte zwar den Lauf der Welt, überwältigte die Menschen aber nicht.
Cornelia Schneider aus dem Museum zuckt mit den Schultern auf die Frage, ob Gutenberg einen politischen Antrieb hatte. Über den Mann ist kaum etwas bekannt, man weiss nicht einmal, wie er aussah – wahrscheinlich hatte er weder den Bart noch die Mütze, womit er auf allen Porträts zu sehen ist; beides war jedenfalls nicht die Mode seiner Zeit. Gutenberg starb 18 Jahre nach seiner Erfindung und verpasste deshalb deren erste weltstürzende Konsequenz: Die 95 Thesen von Reformator Martin Luther wären womöglich ein lokales Phänomen aus Wittenberg geblieben, hätte der Autor vor Gutenberg gelebt. 1517 aber konnten Drucker sich die Thesen greifen, und nach einigen Wochen kannte man sie überall.
Was man erkennt, wenn man in Mainz durchs Museum geht: wie Gutenbergs Erfindung erst im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten reifte – technisch, indem zunächst der Holzschnitt und erst im 16. Jahrhundert der Kupferstich das wichtigste Verfahren zur Illustrierung wurde; kaufmännisch, indem 1604, also 150 Jahre nach Gutenberg, zum ersten Mal Bücher auf einer Auktion gehandelt wurden; inhaltlich, indem im Zuge der Kolonisation des 16. und 17. Jahrhunderts Genres wie Atlanten und Ansichtenwerke entstanden. Gutenbergs Erfindung veränderte zwar den Lauf der Welt, überwältigte die Menschen aber nicht. Die Drucke mit Luthers Thesen mussten von Postreitern übers Land gebracht werden. Eisenbahn, Telegraf und Telefon kamen erst im 19. Jahrhundert hinzu. In der Gutenberg-Galaxis hatte die Menschheit noch Zeit, sich an neue Techniken zu gewöhnen.
Deutungsmonopol der Medien beendet
In der Zuckerberg-Galaxis indes? Es ist ja eben nicht so, wie der Facebook-Erfinder es darstellt: dass er 2004 lediglich das nächste Medium nach «Zeitungen, Telefonen, Fernsehern» bereitgestellt hätte. Sondern sein Medium markiert genauso einen Epochenbruch wie im 15. Jahrhundert der Buchdruck. Der Epochenbruch, den Gutenberg bewirkte, war, dass Texte nun von sehr vielen Menschen empfangen werden konnten. Bei Zuckerberg besteht er darin, dass nun genauso viele Menschen senden wie empfangen können, nämlich alle – aber indem er innerhalb von ein paar Jahren über die Menschheit kam, ist er viel brutaler. 1464 kommunizierte man noch genauso miteinander wie 1450. Doch 2018? Ist alles ganz anders als 2004.
Vor Zuckerberg brauchte jeder, der senden wollte, einen Verlag oder eine Radiostation. Nun reichen Internetanschluss und ein paar Sekunden Zeit. Jeder kann senden: dass man mit zwei Schulfreunden beim Après-Ski im Bergrestaurant sitzt, dass Websites wie die sehr rechte «Epoch Times» oder die sehr linken «Nachdenkseiten» die einzigen sind, die noch die Wahrheit schreiben. Die wer? In der Zuckerberg-Galaxis gibt es sozusagen ein Deutungs-Polypol. Es hat jenes Deutungsmonopol der etablierten Medien beendet, das diese in der Gutenberg-Galaxis für selbstverständlich hielten.
«And that's the way it is», so ist es nun mal – mit dem Satz beendete der amerikanische Moderator Walter Cronkite zwei Jahrzehnte lang seine Abendnachrichten bei CBS, bis 1981. Was für eine Anmassung. Heute kann jeder Kluge und jeder Geltungsbedürftige sein eigener Cronkite sein; zwar nicht jeder mit einem Millionenpublikum, aber mit der technischen Chance darauf.
Hexenhammer des 21. Jahrhunderts
Vielleicht war es ja wirklich so, wie Mark Zuckerberg es immer noch erzählt. Dass er seine «Mission» nur darin sah, «die Welt miteinander zu verbinden». Vielleicht ist das zumindest die halbe Wahrheit: Wir erfinden mal das Flugzeug, und sollte es Probleme mit der Sicherheit geben, können wir uns darum immer noch kümmern. Doch eine halbe Wahrheit ist mitunter irreführender als die ganze Lüge. Ex-Manager von Facebook haben berichtet, worum es ihnen ging: Facebook so zu konstruieren, dass die Menschen möglichst viel Zeit dort verbringen. Je länger sie bleiben, umso mehr Daten liefern sie. Umso mehr Werbung kann man ihnen zeigen. Umso mehr Geld kann man mit ihnen verdienen. Daher dieses System aus Likes und aus Kommentaren: um bei den Nutzern Dopamin und damit ein Glücksgefühl auszuschütten, das süchtig macht. «Facebook ist legales Crack», sagt Zuckerbergs früherer Manager Antonio Martínez.
Crack ist eine gute Bezeichnung, weil Facebook Verheerungen anrichtet: indem seine Algorithmen jedem, der die Welt ohnehin für eine einzige Verschwörung hält, Verschwörungstheorien zuspielen; indem sie Zehntelwissen und Hörensagen zur Basis realer Kommunikation machen; indem sie Faktenverdrehern die Chance geben, mithilfe von 200 Aliasnamen eine Masse Gleichgesinnter zu simulieren und Diskussionen zu lenken; indem sie russischen Propagandafabriken eine Bühne geben, ohne dass Benutzer eine Chance haben, diese Fabriken als solche zu erkennen; indem sie Populisten und Aufklärern denselben professionell anmutenden Auftritt verschaffen; indem Menschen Facebook – oder Twitter oder Google – für eine Quelle halten. Auf die Frage, ob Facebook eine Vertriebsplattform sei oder ein Verlag (also eine Firma, die kuratiert, gewichtet, lektoriert), antwortete Zuckerberg: «Eine Vertriebsplattform. Ganz klar.» Er hat damit den Hexenhammer des 21. Jahrhunderts geschaffen, nur mit noch gravierenderen Folgen.
Ein grundstürzendes Medium, das derart schnell über die Menschheit kommt, muss alle überwältigen: seine Schöpfer, seine Anwender, die Politiker.
Der Mensch habe ein grundlegendes Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Gewissheit, schreibt der Sozialpsychologe Ernst-Dieter Lantermann. Digitalisierung und Globalisierung, diese Geschwister, haben bewirkt, dass diese Bedürfnisse oft nicht mehr befriedigt werden – mit der Folge, dass Menschen in eigene Gewissheiten fliehen. «Radikalismus und Fanatismus sind keine zwangsläufige Antwort auf die Zumutungen, die eine moderne Gesellschaft an ihre Mitglieder stellt», schreibt Lantermann, «allerdings eine Option, die immer häufiger gewählt wird.» Facebook ist das Werkzeug dazu.
Ein grundstürzendes Medium, das derart schnell über die Menschheit kommt, muss alle überwältigen: seine Schöpfer, seine Anwender, die Politiker. Das Problem ist, dass die demokratischen Gesellschaften dieses Medium sehr viel schneller in den Griff bekommen müssten, als sie dessen Mechanismen überhaupt kapieren; ganz einfach um ihrer Zukunft willen. Wie lange noch hinkt die Politik hinterher? Bis irgendwem die grosse Lösung einfällt? Bis Zuckerbergs Konzern auf ein paar Millionen Lügen und damit ein paar Millionen Dollar verzichtet? Oder bis sich der übernächste US-Präsident an die Zerschlagung dieses Konzerns wagt, so wie einer seiner Vorgänger, Theodore Roosevelt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Standard Oil, der weltbeherrschenden Company von damals?
Johannes Gutenberg war auch ein Geschäftsmann. Er erfand nicht nur die beweglichen Lettern, er stellte auch sogenannte Pilgerspiegel her. Schon zu seiner Zeit fuhren die Menschen nach Aachen, wo alle sieben Jahre ein Kleid, eine Windel und zwei Tücher gezeigt wurden, die von Maria, Jesus und Johannes dem Täufer stammen sollen. Die Pilger standen davor, hielten Gutenbergs Spiegel hin und hofften, dass die Kraft der Reliquien auf sie übertragen würde. Es muss ausgesehen haben wie heute, wenn die Leute ihre Smartphones recken.
Rührend, im Vergleich zu Facebook sowieso.
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