
Die Schweizer, so scheint es, lieben das Pendeln – so wie sie das Bierbrauen lieben oder das E-Biken. All das tun sie Jahr für Jahr mehr.
Dass man in der Schweiz beruflich immer häufiger unterwegs ist, hat allerdings andere Gründe als Begeisterung. Seit längerem werden viele Wohnungen dort gebaut, wo es wenig Arbeit gibt (in ländlichen Regionen). Dort, wo sich die Jobs ballen, fehlt es wiederum an Wohnungen (in den Städten). Dieses Ungleichgewicht schafft mehr Verkehr. Eine «Mobilitätsmaschine» nennt es die ETH-Forscherin Sibylle Wälty.
Eine solche Mobilitätsmaschine verbraucht fossile Energie und menschliche Zeit, sie frisst Raum, Geld und Nerven. Um sie zu bremsen, gibt es zwei Wege: Man verschiebt die Arbeitsplätze an den Rand. Oder man holt die Wohnungen, welche die wachsende Schweiz benötigt, ins Zentrum.
Variante eins wird bereits eifrig verfolgt. Die meisten Gegenden mit Wohnungsüberschuss versuchen, neue Unternehmen anzulocken. Oft mit mässigem Erfolg. Die Konkurrenz durch die Städte, allen voran Zürich, ist gross.
Der Vorsprung der Grossstadt
Zürich hat gegenüber ländlichen Regionen zwei Vorteile: Bildung und Urbanität. Ehrgeizige junge Menschen strömten schon immer in die Metropolen. Dort lockt das Abenteuer – und der Abschluss an einer Hochschule. Neu ist, dass sie auch nach dem 30. Geburtstag in der Stadt bleiben und nicht abwandern aufs Land.
Dahinter steht ein Gesinnungswandel: Lange galten Städte als einengend. Heute wird urbane Gedrängtheit als Luxus geschätzt. Das schafft eine völlig neue Ausgangslage.
Dass sich Junge mit guter Ausbildung in «Schwarmstädten» sammeln, entspricht einem internationalen Trend. In Zürich hat sich der Anteil an Hochschulabsolventen während der letzten 15 Jahre von einem Drittel auf die Hälfte erhöht. Gleichzeitig verjüngt sich die Bevölkerung.
Schon lange ragen mehr Kräne über die Zürcher Dächer als Kirchtürme.
An solchen Orten finden viele Unternehmen die fähigsten Arbeitskräfte. Deshalb gefällt es Google in Zürich, obwohl die Firma in Schaffhausen weniger Steuern zahlen müsste. Diesen Grossstadt-Vorsprung können die kleinen Städte nur schwer aufholen. Arbeitsplätze lassen sich ohne Zwang also kaum umverteilen.
Es bleibt die zweite Bremsstrategie: mehr Bewohner für Zürich. Auch da wird viel getan. Schon lange ragen mehr Kräne über die Zürcher Dächer als Kirchtürme. Seit 1997 hat die Stadt 65'000 Menschen aufgenommen. Doch das reicht bei weitem nicht, da gleichzeitig mehr Jobs entstanden sind. Heute pendeln gut 200'000 Menschen in die Stadt, viele von ihnen würden wohl auch gerne dort leben. Damit sie und ihre Angehörigen alle Platz fänden, brauchte Zürich Wohnraum für rund 400'000 weitere Menschen.
Theoretisch liesse sich das leicht erreichen. Im europäischen Städtevergleich ist Zürich eher locker besiedelt. Es genügte, alle Quartiere ähnlich zu bebauen wie die Kreise 3, 4 oder 5. Ausserdem gibt es rundherum viel freies Land.
Das 19. Jahrhundert machte es vor
Wie ein Urbanisierungsschub gelingen kann, führte Zürich Ende des 19. Jahrhunderts vor, als es innert weniger Jahrzehnte vom beschaulichen Städtchen zur Industriemetropole aufschoss. Die damals hochgezogenen Viertel gehören heute zu den beliebtesten Wohngegenden.
Die Rezepte aus der Gründerzeit lassen sich nicht direkt übernehmen. Aber das damalige Bekenntnis zur Stadt bleibt vorbildlich. Es umfasst die Einsicht, dass eine enge Bebauung nicht böse ist; dass sie vielmehr lebenswerte Räume schafft, wenn man sie nur geschickt gestaltet. Rund um Zürich sind gerade mehrere Siedlungen in diesem Geist entstanden – das Richti- und das Zwicky-Areal, der Glattpark. Noch stehen sie ziemlich einsam da.
Auch die Restschweiz sollte ein Millionen-Zürich fördern. Es sorgte dafür, dass die Landschaft nicht weiter zugestellt wird mit Blöcken, auf die keiner gewartet hat; dafür, dass die Autobahn-Staus nicht jedes Jahr länger werden; dafür, dass die Schweizer das Pendeln zurückfahren können und mehr Zeit erhalten für anderes, zum Bierbrauen etwa oder zum E-Biken.
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Eine zweite Gründerzeit
Die Schweiz verschwendet, wovon sie so wenig hat: Land. Dagegen hilft nur ein neues Bekenntnis zur Grossstadt.