«Er schludert»
Historiker kritisieren Christoph Blocher scharf für seine Deutung des Landesstreiks – und entdecken bei ihm gar eine «bolschewistische Argumentationskette».
Die These, Moskau habe den Schweizer Landesstreik 1918 mit Agenten und Geld ermöglicht, hielt sich lange. Nachdem Historiker Willi Gautschi 1968 in seinem allseits respektierten Standardwerk «Der Landesstreik 1918» festgestellt hatte, es fehlten schlicht die Beweise dafür, kursierte die «Konspirations-These» nur noch sporadisch.
Christoph Blocher versucht in der aktuellen «Weltwoche» (der Text ist eine verlängerte Fassung seines Wetziker Referats), die These wiederzubeleben. Blocher schreibt: «Die Aufdeckung des handfesten Treibens in Richtung Bürgerkrieg mit rechtsgültigen Beweisen war nicht möglich. Das dürfte – wie der Berner Historiker Walther Hofer gezeigt hat – vor allem daran gelegen haben, dass der sowjetischen Gesandtschaft bei ihrer Ausweisung gestattet wurde, das gesamte Aktenmaterial unbesehen mitzunehmen.» Ob mit oder ohne sowjetische Hilfe: Für Blocher ist in jedem Fall klar, dass Robert Grimm und sein Oltener Aktionskomitee im kritischen November 1918 mit dem Bürgerkrieg zündelten und nur durch energisches Militär gestoppt werden konnten.
Damit nicht genug: Landesstreik-Anführer Grimm, so Blocher, habe «wohl» die Sowjetunion ermöglicht. Grimm sei als Organisator der Sozialisten-Kongresse in Zimmerwald und Kiental sowie Lenins Bahnfahrt nach Russland mitverantwortlich für die Entstehung der Sowjetunion, letztlich mitverantwortlich für «einen ungeheuerlichen Terror und Massenmord im Namen des Sozialismus in vielen Ländern mit hundert Millionen Toten!».
«Den Sowjets auf den Leim gegangen»
Was halten Landesstreik-Experten von Blochers Text? Herzlich wenig. «Blochers Spekulation ist müssig, seine Verknüpfung der Person Grimm mit der Entstehung der Sowjetunion überaus fragwürdig», sagt Bernard Degen, kundigster Grimm-Kenner im Land und Herausgeber des letzten Sammelbands zum Thema. So lässt Blocher laut Degen in seiner schnurgeraden Herleitung «Von Grimm zur Sowjetunion» ausser Acht, dass Lenin wie Grimm von der Februarrevolution erst aus der Zeitung erfahren hätten, die Anfänge der späteren Sowjetunion aus der Schweiz, also aus weiter Ferne verfolgt hätten. Dass Grimm und Lenin erbitterte Gegner gewesen seien. Dass in den Zügen nach Russland noch rund 500 weitere Russen gewesen wären, und dass auch der Bundesrat diese Rückführung durchaus begrüsst habe – «weil viele der Russen mausarm waren und unterstützt werden mussten».
Nicht ohne Ironie ist Degens Feststellung, dass der SVP-Patron in seinem Text eine staatskommunistische Interpretation vertrete: «Indem Blocher Zimmerwald zum Ursprung der Sowjetrevolution erhöht», sagt Degen, «folgt er nämlich einem Narrativ der regimetreuen Sowjet-Historiker. Blocher ging den Sowjets auf den Leim.» Die 1967 veröffentlichten Akten der Zimmerwalder Bewegung hätten die Bedeutung der Konferenz relativiert, westliche Historiker würden Zimmerwald spätestens seither nicht mehr diese enorme Bedeutung für die Entstehung der UdSSR zumessen.
Andreas Thürer, auf den Landesstreik spezialisierter Historiker, sieht in Blochers Überhöhung von Zimmerwald und dessen Organisator Grimm ebenfalls eine typisch sowjetische Deutung: «Die Zimmerwalder Bewegung wurde im Nachhinein von den Bolschewiki vereinnahmt als Keimzelle der III. kommunistischen Internationalen. Blocher folgt damit der bolschewistischen Argumentationskette.»
Bilder: Der Landesstreik 1918
Von Sowjet-Akten, mit denen russisch-schweizerische Bürgerkriegs-Vorbereitungen belegt werden könnten, ist weiterhin keine Spur – trotz der teilweisen Öffnung russischer Archive in den 1990ern. Peter Collmer, der die russischen Archive erforscht hat, schreibt, eine direkte organisatorische Verstrickung der Schweizer Streikenden mit der Sowjetunion könne er «aufgrund der mir bekannten russischen Akten» nicht feststellen. Der Historiker bleibt vorsichtig und will nicht gänzlich ausschliessen, dass es noch Akten zu entdecken gibt und Blochers Spekulation zutrifft, sagt jedoch: «Aufgrund der vielen anderen Dokumente, die wir bereits kennen, würde mich das aber erstaunen». Degen fügt hinzu, dass die Schweizer Bundesanwaltschaft von 1918 bis 1920 vergeblich nach Verbindungen gesucht habe. Der Basler Historiker hält fest: «Die Konspirationsthese ist eine Verschwörungstheorie.»
Besonders heftig wird Blocher von Adrian Zimmermann kritisiert. Der Historiker forschte für den Gewerkschaftsbund zum Landesstreik und hat für die Robert-Grimm-Gesellschaft eine Erwiderung auf Blochers Deutung mitverfasst. Blochers Text sei in vielerlei Hinsicht «dilettantisch» und «abstrus» – «Blocher versteht offenbar nicht viel von Geschichte.» Auch in den Details sei der Text fehlerhaft. «Er spricht im Kontext des Ersten Weltkriegs etwa von Achsenmächten, obwohl das ein Begriff des Zweiten Weltkriegs ist und er eigentlich die Mittelmächte meint.» Zimmermanns hartes Fazit: «Blocher schludert.»
Die Heugabel-Frage
Doch was ist nun mit Blochers Hauptthese, dass Grimm heute verklärt und seine Gefährlichkeit verkannt werde? Dass der Oberländer bereit gewesen sei, die Schweiz für seine sozialistischen Ideale in einen verheerenden Bürgerkrieg zu stürzen? Was ist mit Grimms Papier zur «Generalstreikfrage», dessen letzter Punkt lautete: «Die Anwendung des unbefristeten allgemeinen Streiks, der zum offenen Bürgerkrieg überleitet und den Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zum Ziel hat.»? Zimmermann dazu: «Grimm sah sich als Revolutionär – aber eben nicht im ‹Heugabel-Sinne des Wortes›, wie er sich ausdrückte. Er sah sich als ein Revolutionär ohne Gewaltanwendung.» Zum angeblichen Ziel des «offenen Bürgerkriegs» schreibt Zimmermann für die Robert-Grimm-Gesellschaft, Grimm habe den seinen damit lediglich klar machen wollen, über welche Mittel die Arbeitschaft verfüge.
Zimmermann zitiert Grimm: «Den unbefristeten Streik kommt für uns heute kaum in Frage, da er in seinen Konsequenzen unabsehbar ist. Das schweizerische Proletariat kann in einen solchen Kampf nicht eintreten, solange nicht auch in den umliegenden Staaten die revolutionäre Bewegung genügende Fortschritte gemacht hat.» Grimms «Vier Punkte» sind aus Zimmermanns Sicht keine Handlungsanweisung, kein eigentlicher Plan – sondern eine theoretische Auslegeordnung.
Ob Christoph Blochers Attacke auf Robert Grimm und das linke Jubiläumsjahr 1918 verfängt, ist zweifelhaft. Die Ablehnung seitens der Historiker ist so vehement wie detailliert, anders als zuletzt bei Blochers Interpretationen der Schlacht von Marignano oder von Bruder Klaus. Wahrscheinlich gibt der SVP-Stratege dem Jubiläum sogar erst richtig Schwung – und damit auch der Frage, über die Blocher etwas weniger gern diskutiert: Wie günstig sich der Landesstreik letztlich auf das alltägliche Leben der Schweizer Bürger ausgewirkt hat.
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