Er will Schweizer Muslime politisch bilden
Amir Dziri, Deutscher mit tunesischen Wurzeln, leitet neu das Zentrum für Islam und Gesellschaft in Freiburg. Der Theologe hofft auf eine Islamdebatte ohne kulturkämpferische Töne.

«Von der Physiognomie her bin ich Südländer, von der Mentalität her deutsch»: So stellt sich Amir Dziri selber vor. In Tunis geboren, ist er in Bonn aufgewachsen, wo sein Vater als Gymnasiallehrer arbeitet, die Mutter als Unternehmerin. Die Auseinandersetzung mit seiner Biografie habe ihn zum Islam geführt. Erst 33-jährig, wirkt der mit einer Deutsch-Marokkanerin verheiratete Theologe neu als Co-Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft und als Professor für islamische Studien an der Universität Freiburg.
Der junge Mann mit modischem Kurzbart wird dem Schweizer Islam ein frisches Gesicht geben. Man glaubt ihm, wenn er sagt, er habe nicht vor, sich mit steilen religionskritischen Thesen in den Feuilletons zu profilieren. Eher introvertiert, reflektiert er in die Tiefe. Der religiöse Diskurs sei immer ein Überzeugungsdiskurs, sagt Dziri. Er versuche auf wissenschaftlicher Basis zu Glaubens- und Handlungsgewissheit anzuregen, aber ohne jeden moralischen Druck. Im Unterschied zu einem Islamwissenschaftler vermittelt er als Professor für islamische Studien, übrigens als Erster in der Schweiz, eine Binnensicht des Islam: «Die Muslime sollen ihre Lehre selber von innen her reflektieren können im Sinne einer Selbstermächtigung.»
Das Erbe des politischen Islam
In seiner ersten Vorlesung in Freiburg wird Dziri versuchen, die Geschichte der politischen Philosophie in der islamischen Welt nachzuzeichnen. «Das ist ein Thema, das mich umtreibt», sagt der Theologe, «und zugleich eine Schlüsselproblematik des zeitgenössischen Islam.» Politische Theorien in der islamischen Welt seien bis heute im antiken Modell verhaftet, wonach sich die Tugendhaftigkeit des Individuums in der Familie und im Staat spiegeln müsse.
Schon in der frühislamischen Zeit sei die Religion Quelle des Politikdiskurses gewesen. Im 9. Jahrhundert dann habe sich das politische Amt des Sultans vom religiösen des Kalifen getrennt. Diesen Machtverlust habe der osmanische Staat im 19. Jahrhundert mit der Personalunion von Kalif und Sultan kompensiert und die Muslime für das Weiterbestehen des islamischen Reiches mobilisiert. «Diese Politisierung des Islam im 19. Jahrhundert ist sein grundlegender zivilisatorischer Bruch.»
Die relativ junge Idee, den Islam als Grundlage eines politischen Gefüges zu etablieren, habe in Indonesien zu einer islamischen Demokratie geführt, im Iran zur Theokratie, in Ägypten oder der Türkei zu autokratischen Regimes mit repressiver Interpretation der Religion. «Deshalb leben die Muslime in Europa in einer grossen Spannung zwischen dem liberalen westlichen Modell und dem autokratisch-exklusivistischen Gegendiskurs ihrer Herkunftsländer.»
«Die Muslime in Europa leben in einer grossen Spannung zwischen dem Modell des Westens und ihren Herkunftsländern.»
Für sich selber wertet es Dziri als Vorteil, bikulturell aufgewachsen zu sein. «Ich habe das Privileg, verschiedene Perspektiven kritisch reflektieren zu können, was vielen Muslimen nicht möglich ist.» Für ihn ist es nur eine Frage der Zeit, bis es einen europäischen Islam geben wird. Voraussetzung sei allerdings, dass die Debatte von beiden Seiten her nicht unter dem Vorzeichen des Kulturkampfes geführt werde, sondern jenseits westlicher Dominanz und jenseits des islamischen Populismus mit seinen antiwestlichen Vorurteilen.
Dziri zögert, sich einen islamischen Reformtheologen zu nennen. Er sieht sich eher als «kritischen Traditionalisten». Es gehe ihm eben nicht darum, die Wurzeln der Tradition zu kappen, sondern im Gegenteil die reichhaltigen Ansätze islamischer Kulturgeschichte zu reflektieren. Das schliesse aber aus, nach Salafistenart das Islamverständnis der frühen Gefährten Mohammeds als allein verbindlich zu verabsolutieren. Ebenso unsinnig sei es, wenn Imame die an sie gerichteten Fragen wie in einem Callcenter in Form von Fatwas beantworteten.
«Dank meiner biografischen Auseinandersetzung bin ich immer tiefer in die Islamwissenschaft reingerutscht», sagt der Theologe, der Beziehungen zur tunesischen Heimat pflegt. Aus der Ferne erlebte er das Scheitern des Arabischen Frühlings als besonders bedrückend. «Es offenbart das Dilemma der arabisch-muslimischen Welt: Der Arabische Frühling war ja nicht aus einer religiösen Revolte entstanden, sondern aus einer sozioökonomischen Krise.»
Der Terror und der Koran
Religionsideologen wollten den Frühling kappen und etwas Religiöses daraus machen, sagt Dziri. Die religiöse Rhetorik, wonach Mohammed je nach Weltbild der erste Demokrat ist, der erste Sozialist, der erste Feminist, der erste Umweltaktivist, macht für ihn keinen Sinn. «Muslime müssen lernen, sozioökonomische Fragen stärker von religiösen Diskursen zu trennen.»
Der Arabische Frühling ist für Dziri Ausdruck einer politisch-zivilisatorischen Suchbewegung, wie sie seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Ende des Kolonialismus eingesetzt habe. Nach ihrer Unabhängigkeit hätten sich die arabischen Staaten nationalistisch gebärdet, dann sozialistisch und dezidiert antireligiös, schliesslich demokratisch-reformerisch und jetzt religiös-fundamentalistisch. Mit diesen Suchbewegungen versuche die arabische Welt, ihre zivilisatorische Rolle zu finden. Sollte ihr das nicht gelingen, werde der Westen die Flut der Flüchtlinge nicht mehr bewältigen können.
Dziri gehört nicht zu jenen, die nach einem islamistischen Anschlag sagen: Das hat nichts mit dem Islam zu tun. Gewiss, das junge Phänomen der Selbstmordattentate könne nicht mit den Heiligen Schriften legitimiert werden. Der Koran beinhalte klare Verbote der Selbsttötung und des Mordes an Zivilisten. In den religiösen Texten könne man aber Legitimationen finden, welche die Gewaltbereitschaft bedienten. Darüber hinaus führten polarisierende Formalismen wie Gläubige/Ungläubige oder Halal/Haram zu einer Triumphideologie, welche der islamischen Gelehrsamkeit nicht gerecht werde.
Genau darum setzt Dziri auf Bildung – auf die politische zumal.
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