«Erdogan hätte es in der Schweiz nicht so weit gebracht wie Blocher»
Für viele Rechtspopulisten in Europa ist die SVP das grosse Vorbild. Politologe Michael Hermann erklärt, wie es dazu kam.

Rechtspopulistische Parteien vieler europäischer Länder nennen regelmässig die SVP als Vorbild, am Wochenende war es die AfD-Politikerin Alice Weidel in der «NZZ am Sonntag». Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es ist der Erfolg der SVP. Sie dominiert seit Jahren die Schweizer Politik und ist im Gegensatz zu populistischen Parteien im Ausland nie abgestürzt. Dort schafften es zwar etliche in die Regierung, aber sie bezahlten teuer dafür. Sie fielen schnell wieder in sich zusammen.
Auch die SVP ist Teil der Regierung. Weshalb brach sie nie ein?
Sie hat es als eine der wenigen Parteien geschafft, zwei Dinge miteinander zu verbinden, die sich eigentlich nicht verbinden lassen: Sie ist sowohl Teil des Anti-Establishments wie auch Teil des Establishments – sie hatte den Vorteil, dass sie sich aus einer konservativen bürgerlichen Partei heraus zu einer Oppositionspartei entwickeln konnte. Es ist aber nicht nur die SVP alleine, die von rechtspopulistischen Parteien bewundert wird, sondern auch unser System der direkten Demokratie.
Weshalb?
Noch in den 80er- und 90er-Jahren waren es vor allem alternative und links-ökologische Kreise, welche die Hoffnung hatten, mithilfe der Bevölkerung ihre Forderungen gegen das konservative Establishment durchzubringen. In den letzten Jahren zeigte sich jedoch, dass die direkte Demokratie vor allem rechtspopulistischen Kräften hilft, etwa bei der Masseneinwanderungsinitiative oder bei der Ausschaffungsinitiative. Dank der direkten Demokratie konnte die SVP ihre Politik legitimieren, schliesslich wurden ihre Forderungen von der Bevölkerung getragen. So wurde es schwierig, sie auszugrenzen. Genau das wünschen sich andere rechtspopulistische Parteien auch.
Der gemeinsame Nenner aller rechtspopulistischen Parteien ist die nationale Identität und die Unabhängigkeit – das Kernthema der SVP.
Diese Themen sind eng mit unserer Geschichte verbunden und werden in der Schweiz seit Jahren heiss diskutiert. Sie gehen einher mit einer Grundhaltung, die bei uns verbreitet ist: Sich gegen grosse Strukturen wehren, sich abgrenzen, nicht dabei sein. Diese Haltung hat die SVP sehr erfolgreich bewirtschaftet. Nur dank ihr hat sie es geschafft, stärkste Partei des Landes zu werden – erst mit der EWR-Abstimmung ging sie durch die Decke.
Wird die SVP auch deshalb als Vorbild gesehen, weil Phänomene wie Migration und Flüchtlinge gerade in den letzten Jahren zum grossen Thema geworden sind?
Wohl auch. Es sind typische Wohlstandsthemen, die erst dann virulent werden, wenn alle anderen gelöst sind. In den vergangenen Jahren waren sehr viele Menschen nach Europa geflüchtet. Die sozialen Medien machten sichtbar, dass sich viele Ansässige daran stören, und trugen dazu bei, dass solche «inkorrekten Positionen» populär wurden. In der Schweiz ist dies mit der Schwarzenbach-Initiative bereits 1970 geschehen.
Welchen Anteil hat Christoph Blocher daran, dass die SVP heute vielen Rechtsparteien als Vorbild dient?
Ohne ihn wäre die SVP nie so gross und auch nie Vorbild für andere Parteien geworden. Die Schweiz ist an sich kein guter Boden für sogenannte «strongmen», starke Männer, wie Recep Tayyip Erdogan oder Viktor Orban. In unserem politischen System, das die Macht verteilt, haben es dominante Figuren schwer.
Angenommen, Erdogan und Orban wären in der Schweiz geboren. Hätten sie es nicht so weit gebracht wie Christoph Blocher?
Das ist eine hypothetische Frage. Aber nein, Erdogan hätte es wohl nicht so weit gebracht. Er ist grossspurig und machthungrig, das kommt bei uns nicht gut an. Christoph Blocher hingegen hat es geschafft, weil er seine Doppelrolle perfekt spielen konnte: Auf der einen Seite wirkt er bescheiden, volksnah. Auf der anderen Seite ist er ganz klar Teil des Polit- und Wirtschaftsestablishments. Zudem ist er nicht nur Populist, sondern auch Realpolitiker – er kennt sich in vielen Themen sehr gut aus.
Was macht Sie so sicher, dass Politiker wie Erdogan oder Orban chancenlos wären?
Man sieht es am Beispiel Oskar Freysingers, ebenfalls eine schillernde und egozentrische Figur. Die Walliserinnen und Walliser haben ihn bereits nach vier Jahren nicht wieder zum Regierungsrat gewählt. Unser politisches System wehrt sich gegen solche Figuren.
Nun begann der Aufstieg der SVP schon vor über 25 Jahren. Sie ist den anderen rechtspopulistischen Parteien ein Vierteljahrhundert voraus.
Auch hier liegt die Erklärung im System der direkten Demokratie: Kleine Gruppierungen machen früh Themen sichtbar, welche die Bevölkerung beschäftigen, etwa James Schwarzenbach, der in den 60er-Jahren gegen die Überfremdung antrat, oder das Egerkinger Komitee, das Minarette verhindern wollte. Dem Establishment blieb gar nichts anderes übrig, als sich auf diese Themen einzulassen. In anderen Demokratien haben sich die Parteien an der Macht darüber geeinigt, über solche Themen nicht zu sprechen.
Die Abstimmungen dienen also der Früherkennung
Ja, auch die SVP konnte anhand der Abstimmungsresultate beobachten, welche Themen bei der Bevölkerung ankommen und welche nicht. Diese Informationen fehlten in anderen Ländern: Der ehemalige US-Präsident George W. Bush etwa war immigrationsfreundlich und hätte nie eine Mauer zwischen Mexiko und den USA gefordert. Heute aber kann Donald Trump auf den Social-Media-Kanälen zeitnah beobachten, mit welchen Themen er punkten kann. Die Mauer jedenfalls stiess unter seinen Followern auf grosse Zustimmung.
Nun ist nicht nur die SVP selber, sondern auch ihr Stil Vorbild – in Chemnitz tauchten an Demonstrationen ebenfalls Schäfchenplakate auf.
Die SVP konnte in unserer direkten Demokratie diesen Stil erproben und ihn weiter perfektionieren. Sie hat sich mit der Zeit vieles herausgenommen, was sich Parteien in anderen Ländern nicht trauten. Weil die SVP für ihre Initiativen immer wieder die Zustimmung einer Mehrheiten bekam, wurde ihr Stil durch die Bevölkerung legitimiert. Während andere Parteien ebenfalls mit Provokationen für sich werben, ist die SVP schon wieder davon abgekommen – ihre neuen Plakate zur Selbstbestimmungsinitiative wirken, als würden eine Versicherung für sich werben.
Funktioniert ihr Stil nicht mehr?
Die SVP wurde Opfer ihres Erfolgs. Mittlerweile werben auch die Juso und die Gewerkschaften im SVP-Stil, und sie tun es fast noch aggressiver als diese. So kann sich die SVP nicht mehr von ihren Kontrahenten abgrenzen und bleibt desorientiert und verunsichert zurück. Sie merkt, ihre Rezepte funktionieren nicht mehr.
Die SVP hatte sich einst zum Ziel gesetzt, eine 51-Prozent-Partei, eine Mehrheitspartei zu werden – wie es jetzt auch die AfD tut. So wird daraus nichts mehr?
Dieses Ziel setzte sie sich im Vorfeld der Wahlen 2011, als sie die Ausschaffungs- und die Minarettinitiative durchgebracht hatte und dachte, der Himmel sei für sie nach oben offen. Das war eine fantastische Vorstellung und hatte nichts mit der Realität zu tun – in den Wahlen 2011 hatte sie verloren und konnte den Verlust auch 2015 nicht vollständig wettmachen. Auch die SVP ist der Konjunktur der Themen ausgeliefert, das Flüchtlingsthema hat an Wichtigkeit eingebüsst. Würde heute gewählt, würde sie Wähleranteile verlieren. Aber: Sollte das Rahmenabkommen zum grossen Thema werden, dann steht die SVP bereit und kommt wieder zu ihrer Kraft.
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