«Es besteht der Anreiz, die Patienten kränker zu machen»
Brida von Castelberg, die ehemalige Chefärztin der Frauenklinik des Triemlispitals, sagt, dass zu viel operiert werde.

Der Bundesrat sucht neue Wege, um die Gesundheitsausgaben zu senken. Sie gehören zur Expertengruppe, die in seinem Auftrag Vorschläge formulierte. Welches wäre aus Ihrer Sicht die wichtigste Massnahme?
Es gibt nicht die eine Regel, die in allen Bereichen unseres komplexen Gesundheitswesens wirksam wäre – sonst hätten wir sie schon längst eingeführt. Ich habe aber ein paar Lieblingsmassnahmen, allen voran der Experimentierartikel. Er macht es möglich, etwas auszuprobieren, von dem man annimmt, dass es gut ist, ohne es beweisen zu können.
Was würden Sie persönlich denn gern ausprobieren?
Ich hatte immer die Idee, in einem Spital die Patienten in drei Kategorien einzuteilen: leicht krank, mittelschwer krank und schwer krank. Dafür gäbe es drei Tarife. Man würde einen grossen Teil der riesigen Datenmenge, die man heute erfassen muss, weglassen und die gewonnene Zeit für die Patienten investieren. Das Budget des Spitals bliebe gleich. Am Ende des Jahres würde man schauen, wie zufrieden die Leute sind – sowohl die Patienten wie die Mitarbeiter.
Das wäre das Gegenteil der heutigen Fallpauschalen, für die Hunderte Daten pro Patient erfasst werden.
Genau. Ich finde die Fraktionierung der Patienten schrecklich, vor allem, weil sie monetäre Implikationen hat. Damit besteht der Anreiz, die Patienten kränker zu machen, als sie sind.
Wie meinen Sie das?
Schon vor der Einführung der Fallpauschalen im Jahr 2012 hatte die Bürokratie stetig zugenommen. Neu ist jetzt aber der Aspekt, dass man mehr Geld bekommt, je mehr man erfasst.
Viele Daten werden angeblich aus Qualitätsgründen erhoben...
...aus der Überlegung heraus, dass man besser beurteilen kann, was gemacht wurde, je mehr Daten über eine Behandlung vorliegen. Das Wichtigste wird allerdings bis heute nicht erfasst: die Indikation. Das heisst die Antwort auf die Frage, ob das, was gemacht wurde, auch wirklich gemacht werden musste. Die Krankenkassen können aufgrund der gelieferten Daten nicht beurteilen, ob eine Behandlung nötig war. Und ebenso wenig, ob diese gut war.
«Statistiken zeigen, dass dort, wo die Spezialistendichte hoch ist, mehr operiert wird. Dabei ist dort die Bevölkerung ja nicht kränker.»
Wer müsste denn sicherstellen, dass die Indikationen stimmen?
Das müssten Fachgremien tun, wie heute die Tumor-Boards in der Onkologie: Alle beteiligten Fachleute besprechen die Krankheit und diskutieren, was das Beste für die betroffene Person ist.
Eigentlich wäre zu erwarten, dass Ärzte immer das Beste für ihre Patientinnen und Patienten tun.
Manchmal aber auch noch etwas mehr. Statistiken zeigen, dass dort, wo die Spezialistendichte hoch ist, mehr operiert wird. Dabei ist dort die Bevölkerung ja nicht kränker. Es wird einfach schneller ein Eingriff empfohlen und gemacht.
Die einfachste Lösung wäre, ein paar Spitäler zu schliessen und weniger Spezialärzte zuzulassen.
Das ist einer unserer Vorschläge: Schauen, wo welche Spezialisten besonders stark vertreten sind, und dort deren Zulassung beschränken. Wenn es zum Beispiel in einer Region besonders viele Orthopäden gibt, könnte der Kanton neue Bewilligungen verweigern. Und zwar heute schon, ohne unseren Bericht. Die Kantone sind dazu befugt.
Wieso tun sie es nicht?
Das weiss ich nicht.
Ihre Expertengruppe machte auch einen radikalen Vorschlag, um die Gesundheitsausgaben zu bremsen: eine Plafonierung der jährlichen Kosten. Statt wie heute um 4, sollten sie nur noch um 2,7 Prozent steigen dürfen. Spitäler, Ärzte und auch die Kassen lehnten die Massnahme vehement ab, der Bundesrat stellte sie zurück. Ist er mutlos?
Nein. Es ist sinnvoll, zuerst die anderen Massnahmen zu prüfen. Wenn diese nicht zum Tragen kommen, können wir das Kostendach einführen. Es ist eine Art Damoklesschwert für den Fall, dass sich die Akteure im Gesundheitswesen der Kostenkontrolle verweigern. Ich selber finde die Plafonierung eine sinnvolle Sache. Denn es kann nicht gut gehen, wenn die Gesundheitsausgaben ständig viel stärker wachsen als das Bruttoinlandprodukt. Der Staat hat noch andere Aufgaben als die Gesundheit. Zumal die Medizin zur Gesundheit eines Menschen nur 20 Prozent beiträgt – der Rest sind Bildung, Soziales, Genetik, Ernährung. Und wir investieren 80 Milliarden Franken in diese 20 Prozent! Schlimm wäre, wenn nicht mehr genug Geld für die Bildung zur Verfügung stünde. Diese ist eminent wichtig – auch im Hinblick auf die Gesundheit. Es gibt ja Leute, die haben keine Ahnung von ihrem Körper.
Sie plädieren für mehr Bildung im Thema Gesundheit.
Es sollte ein Schulfach sein, ergänzend zur heutigen Biologie. Pflanzen sind zwar schon interessant, doch viel interessanter finde ich die Anatomie des Körpers und wie dieser funktioniert. Das wird nicht gelehrt. Sogar Leute mit durchschnittlicher Bildung wissen nicht, wie viele Nieren ein Mensch hat.
«Viele Frauenärzte machen bei der Routinekontrolle auch einfach noch schnell einen Ultraschall der Brust. Mit dem Resultat, dass sie irgendetwas finden.»
Sie machen beim Café Med mit. Jeden zweiten Montagnachmittag beraten im Bistro Chez Marion in Zürich unabhängige Ärztinnen und Ärzte Patienten kostenlos. Mit welchen Problemen kommen diese?
Sie sind verunsichert. Ärzte schlugen ihnen eine Therapie vor, und sie wissen nicht, ob diese richtig ist. Meist hat die Unsicherheit damit zu tun, dass die Ärzte zu wenig Zeit hatten, den Patientinnen alles zu erklären. Ich selber berate viele Frauen mit Brustkrebs, die nicht begriffen haben, welche Therapie wofür ist: Chemo, Bestrahlung, Hormonbehandlung. Oder sie sind schon alt und sehen nicht ein, wofür sie die ganze Tortur noch über sich ergehen lassen sollen. Leider sehe ich im Patientencafé auch häufig, dass Ärzte wegen Kleinigkeiten eine Operation vorschlagen.
Zum Beispiel?
Wegen einer Gebärmuttersenkung ohne weitere Symptome. Viele Frauenärzte machen bei der Routinekontrolle auch einfach noch schnell einen Ultraschall der Brust. Mit dem Resultat, dass sie irgendetwas finden. Eine Zyste. Dann bekommt die Frau Angst, weil sie nicht weiss, dass diese ungefährlich ist. Es folgen unnötige Sachen bis hin zur Operation. Das finde ich unredlich: Ultraschall ist keine Routine-Untersuchung.
Machen Ärzte aus Geldsucht zu viel?
Vielleicht nicht einmal aus Geldsucht, sondern weil sie ihre Patientinnen besonders gut betreuen wollen. Ich möchte keinem Kollegen unterstellen, dass er eine Untersuchung einzig aus finanziellen Gründen durchführt. Trotzdem ist es eine Überversorgung – weil die Behandlung nicht indiziert ist. Und die Patientin lässt es zu mangels Wissen.
Sie sprudeln vor Ideen. Seit 2012 sind Sie pensioniert, beobachten die Entwicklung im Gesundheitswesen weiter und mischen sich ein. Wieso?
Ich wollte ja explizit aufhören. Aber offensichtlich ist das Gesundheitswesen das, was mich interessiert, ich komme langsam wieder rein. Der Vorteil ist: Wenn man nicht mehr selber involviert ist, sieht man die gesundheitspolitischen Zusammenhänge besser.
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