«Es geht darum, innere Ruhe zu finden»
Ostern sei eine Gelegenheit, sich der Endlichkeit seiner Existenz zu besinnen, sagt der Psychoanalytiker Jürgen Grieser. Er ist überzeugt, dass der Tod das Leben reicher macht.

Herr Grieser, die Ostertage bringen Eier, Schokolade und den Gotthardstau. Wären sie auch eine Gelegenheit zur Besinnung auf unsere Endlichkeit?
Der Tod passt nicht in den heutigen Betrieb. Würden wir ihn ernst nehmen, würde er uns zum Nachdenken veranlassen. Da fährt man lieber in den Süden. Früher ging man in die Kirche und hörte vom Pfarrer, wie Jesus gefoltert und ans Kreuz genagelt worden sei, wie er sich von Gott verlassen fühlte und den Tod herbeisehnte – eine Horrorgeschichte! Selbst wenn sie den wenigen verbliebenen Kirchenbesuchern heute noch so erzählt wird, hat sie ihre Rolle als alle Menschen verbindende Erzählung in unserer Kultur verloren.
Ein Historiker vertritt die These, Jesus sei am Kreuz gar nicht gestorben. Der Speerstich des römischen Soldaten habe ihn gerettet, weil er Blut und Wasser austreten liess. Deshalb sei der vermeintlich Tote später gesehen worden.
Gut, aber irgendwann wird Jesus dann gestorben sein. Ich sehe die Osterlegende mit dem Glauben an die leibliche Auferstehung Jesu als Ausdruck des Unsterblichkeitswunsches. Damit verliert die Gewissheit des Todes ihren Schrecken.
Hilft auch Konsum gegen die Angst vor dem Tod?
Sicher. Solange ich etwas kaufen kann, lebe ich. Aber es kann auch helfen, wenn ich mir eine Vorstellung über den Tod machen kann, das führt zu einem sinnhafteren, reicheren Leben. Sigmund Freud spricht vom Todestrieb, ich würde eher vom Todesantrieb sprechen.
Der Tod ist die grosse Kränkung des Menschen. Wäre da Verdrängen nicht einfacher?
Für die meisten Menschen wird so gegen Mitte ihres Lebens das Ende erkennbar, und diese Gewissheit können sie nicht verdrängen. Man nimmt dies zwar nicht direkt als Angst vor dem Tod wahr, hat eher das Gefühl, dass irgendetwas Grundlegendes nicht mehr stimmt. Männer suchen sich dann gerne eine jüngere Frau, aber das hilft auf Dauer nicht. Sie müssten sich um den Sinn ihres Lebens kümmern, und dabei geht es noch um anderes als um die Libido. C. G. Jung sah die Aufgabe der zweiten Lebenshälfte in der Verwirklichung des eigenen Selbst. Oft ist der Übergang in diesen Lebensabschnitt mit einer Krise verbunden.
Dann kommen die Leute zu Ihnen?
Häufig gehen sie erst zum Hausarzt, weil sie psychosomatische Beschwerden oder hypochondrische Ängste in Bezug auf ihre Gesundheit haben. Der Arzt macht Checks und rät zu einem gesünderen Leben und mehr Fitness. Aber bei vielen hilft das nicht, und die kommen dann zu uns. Nicht gleich, im Durchschnitt dauert es etwa sieben Jahre, bis jemand nach dem Auftreten eines psychischen Leidens einen Psychotherapeuten aufsucht.
Welchen Trost geben Sie Ihren Patienten? Als Pfarrer hätten Sie es einfacher, da könnten Sie sagen: Gott beschützt dich, alles kommt gut.
Es gibt keinen Trost. Es geht darum, zu verstehen, dass man am Tod nicht vorbeikommt, und sich folglich besser mit ihm auseinandersetzt. Wenn man die Angst vor dem Tod als Realität zulässt, wird das Leben interessanter. Man lebt mehr im Hier und Jetzt, kann die Dinge und Begegnungen mehr wertschätzen. Man wird sein Leben aus dieser Perspektive vielleicht sogar neu denken, seine Ziele und Ideale revidieren. So verliert man die Angst zwar nicht, aber man kann besser mit ihr klarkommen.
Hilft Religion?
Sie kann schon helfen. Vor allem, wenn man den kindlichen Glauben aufrechterhalten will. Gott tritt dann an die Stelle der Eltern. Als Kind hält man sich für unsterblich und glaubt an omnipotente Retter, der erwachsene Mensch hat Zweifel an solch einfachen Glaubensangeboten. Aber es gibt auch reifere Formen der Religion, die einem mit ihren spirituellen Angeboten helfen, die eigene Existenz zu transzendieren. Das wäre etwa das Wissen um grössere Zusammenhänge des Lebens und die Wirkprinzipien in der Natur. Wenn ich mich als ein vorübergehendes Phänomen im Kosmos verstehe, wird das eigene Selbst zwangsläufig relativiert.
Das Ich wird in dieser Vorstellung klein und unbedeutend. Wie soll man das schaffen – haben wir nicht alle Grössenfantasien?
Wenn ich mich als Teil von etwas Grösserem sehe, kann ich einen Schritt zurücktreten und muss mich selber nicht mehr so wichtig nehmen. Ich werde dann im Idealfall den Blick auf die Welt als Ganzes haben und erkennen, dass die Welt auch ohne mich auskommt.
Kann man das trainieren?
Es geht darum, eine kontemplative Ruhe zu finden. Heute gibts dafür ein grosses Angebot, Meditation, Yoga und Ähnliches. Früher nannte man das Altersweisheit. Da sassen die Alten vor dem Haus oder auf dem Dorfplatz und hatten alle Zeit der Welt, sich über das Leben Gedanken zu machen. Aber heute muss man als Grosseltern noch aktiv sein, um die Welt reisen und konsumieren.
Dann raten Sie Ihren Patienten, sich nicht so wichtig zu nehmen?
Die meisten Menschen, die zu mir kommen, haben zunächst einmal das entgegengesetzte Problem. Sie haben in ihrer Kindheit und Jugend oft zu wenig Anerkennung und Zuneigung bekommen, sind vielleicht traumatisiert, weil sie zu früh auf ungeschützte Art mit Schicksalsschlägen und Tod konfrontiert wurden und ihre Bedürfnisse und Ängste nicht ernst genommen wurden. Wenn ich denen sagen würde, sie sollen sich nicht so wichtig nehmen, dann wäre dies ein Hohn. Da geht es therapeutisch erst mal darum, ihnen zu sagen, sie sollen sich wichtig nehmen. Man muss das Selbst zuerst aufbauen und stärken, bevor man in die andere Bewegung gehen kann, seine eigene Bedeutung infrage zu stellen.
Viele Ängste sind unbewusst. Sind sie über das Bewusstsein überhaupt erreichbar?
Ich sehe das Unbewusste als Teich, an dem ich mit dem Patienten sitze und darauf schaue, was auftaucht. Vieles hat ja einen automatischen Auftrieb. Wenn wir beide jetzt eine Woche in einer Hütte sitzen würden, würden wir zuerst über Oberflächliches reden, aber mit der Zeit käme immer mehr hoch. Als Therapeut muss ich nicht in die Tiefe bohren, sondern nur dafür sorgen, dass nicht zu viel Treibholz auf der Oberfläche liegt, das verhindert, dass etwas hochkommt.
Was halten Sie von den Versuchen im Silicon Valley, sich unsterblich zu machen? Die Wirkung des Altersgens aufheben, das Bewusstsein auf eine externe Festplatte zu speichern? Ist das erfolgversprechend?
Man muss befürchten, dass solche Dinge in der einen oder andern Art tatsächlich umsetzbar sind. Aber wünschbar ist das nicht, weil es das Menschsein für immer komplett verändern würde. Sterblich zu sein, ist ein Grundelement des Lebens überhaupt, es ist ein Prinzip aller Naturvorgänge. Es kann nichts Neues entstehen, ohne dass das Alte abstirbt. Wenn die gleichen alten reichen Menschen ewig konserviert werden, würde nichts Neues kommen. Auch einzelne Forscher über die künstliche Intelligenz sind inzwischen zu diesem Schluss gekommen und bauen so etwas wie die Endlichkeit des Menschen in ihre Modelle ein.
Sie werden Martin Heidegger gelesen haben. Tönt schon fast philosophisch.
Nicht nur Heidegger, jede Philosophie hat sich diese Frage gestellt. Das Denken entstand als Versuch, Dinge zu erklären, die man nicht verstanden hat. Den Tod beispielsweise. Wer den abschaffen will, wird folglich auch das Denken verändern.
Heute gibt es einen starken Druck zur Selbstoptimierung, Fitness und dergleichen.
Selbstoptimierung ist ein ungeheurer Druck, der heute viele Menschen überfordert und sogar in die Depression treiben kann. Wer es nicht schafft, fühlt sich immer im Minus. Das führt zum erschöpften Selbst.
Also sich nicht optimieren?
Wenn man Selbstoptimierung nutzen kann, um zu erkennen, was das eigene Selbst wirklich ist und braucht, dann ist dagegen nichts einzuwenden. Es ist ja zweifellos gut, dass wir heute freier sind, unser Leben selber zu gestalten, und nicht mehr Vorgaben wie die der Religion über allem stehen. Wenn man diese Freiheit positiv nutzt, kann man statt in die Beschleunigung zu gehen, eine nachdenkliche, kontemplative Haltung einnehmen. Yoga wird dann eher spirituell wichtig denn als Fitnesstechnik. Aber das wird einen zwangsläufig in Konflikt mit den gesellschaftlichen Vorgaben bringen, wo Tempo und Leistung gefragt sind.
Wie wichtig ist Aufmerksamkeit, sich selber und anderen gegenüber?
Wenn Patienten mehr in Richtung Achtsamkeit gehen wollen, dann unterstütze ich das in jedem Fall. Die Frage ist einzig, ob dieses Schlagwort etwas bewegt und einen emotional berührt. Die Erfahrungen, die wirklich etwas bewegen, sind in der Regel nicht kognitiv, sondern emotional und körperlich – da ergreift einen etwas. Ich kann das nicht bewusst erzeugen, sondern bloss die Voraussetzungen dafür schaffen, etwa in der Meditation.
Das gehört zu Ihrer Therapie?
Als Psychoanalytiker rede ich erst mal mit den Patienten und versuche, zu verstehen. Und ich werde nicht gleich etwas vorschlagen. Das kommt dann wie von selber. Kommen die Menschen mehr in ihre Körper rein, können sie auch mehr empfinden. Bei depressiven Menschen helfen beispielsweise ganz allgemein Bewegung und Sport. Aber man kann alles so sehr unter dem Leistungsgedanken betreiben, dass man sich damit wieder nur betäubt.
Viele Angebote sind esoterisch und erinnern mehr an Kitsch denn an Sinnsuche: Wer mitmacht, wird angeblich erlöst oder gar unsterblich.
Das sind Angebote auf der kindlichen Ebene des Hoffens auf allmächtige Wesen oder Kräfte. Es gibt Menschen, die sich diese kindlich-positive Wahrnehmung bewahrt haben. Sie glauben dann etwa an Engel oder an eine andere schützende positive Macht. Aber für viele Menschen funktioniert das nicht, und dann führt das grosse esoterische Angebot oft in eine Konsumspirale oder in eine Abhängigkeit von selbst ernannten Gurus. Ob ein Angebot positiv wirkt, merkt man daran, ob jemand entspannter und gelassener wird, seine Weltsicht erweitert und nicht missioniert. Der eine wird seine Ruhe im Denken finden, ein anderer beim Gärtnern oder in der Natur.
Und Sie?
Ich habe beispielsweise dieses Buch geschrieben.
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