«Es geht nur noch ums Gewinnen»
Bei der Altersreform geht es nicht mehr um den Inhalt. Vor der Schluss-Abstimmung liegen die Nerven blank.

An einem der runden Tische in der Galerie des Alpes, unten im Bundeshaus, steht Christian Imark, ein junger SVP-Nationalrat aus dem Schwarzbubenland, und muss sich etwas anhören. Die Fraktionskollegen Sebastian Frehner, Thomas de Courten und Toni Brunner stehen um den jungen Mann herum, reden auf ihn ein. Imark hat sein Kinn in die Hände gestützt, wird immer kleiner.
«Einzelabrieb» nennen sie das im Bundeshaus. Imark will die Rentenreform unterstützen. Trotz den 70 Franken Zustupf und gegen seine Partei. Das Gespräch der vier Parlamentarier ist intensiv, und sie bemerken nicht, wie in ihrem Rücken Kathrin Bertschy und Thomas Weibel, jene zwei GLP-Nationalräte, die schon immer gegen die Rentenreform waren, mit ausdruckslosem Gesicht das Sitzungszimmer 7 verlassen. Sie sehen nicht, wie wenig später GLP-Fraktionschefin Tiana Angelina Moser aus dem Zimmer kommt und den ganzen Einzelabrieb des jungen Mannes überflüssig macht.
Kröten und Pillen
Moser redet von der Kröte, der bitteren Pille, sie braucht viele Worte, aber entscheidend ist etwas anderes: Die Grünliberalen schwenken um. Sie wollen geschlossen für die Reform stimmen, sie wollen die Reform retten.
Die spektakuläre Wende der Grünliberalen ist der vorläufige Schlusspunkt zweier intensiver Tage, wie sie das Bundeshaus selten erlebt.
Viereinhalb Stunden hatte die Einigungskonferenz der beiden Räte tags zuvor gedauert. Als CVP-Ständerat Konrad Graber dann endlich vor die Medien trat, deutete nichts auf das hin, was sich zuvor abgespielt hatte. Der Präsident der Einigungskonferenz präsentierte den Kompromiss zwischen den beiden Räten, und er wirkte dabei sachlich wie immer. Im Hintergrund verliessen die 26 Sozialpolitiker den Raum; sie schwatzten und lachten. Grösser hätte der Kontrast zur Stimmung während der Konferenz nicht sein können. «Ein abgekartetes Spiel», «ein kindischer Machtkampf», «ein demokratieunwürdiges Armutszeugnis» – es sind harsche Worte, mit denen die Sitzung tags darauf in der Wandelhalle beschrieben wird. Vertreter der beiden Lager hätten sich mit deplatzierten Bemerkungen herabgewürdigt, sie seien sich ins Wort gefallen – und sogar einzelne Buhrufe seien zu hören gewesen. Einigen Ständeräten sei der unübliche Ton derart nahegegangen, dass sie schlecht geschlafen hätten.
Die Bürgerlichen verlieren in zentralen Vorlagen
Dabei ist die Wut, die sich in der Einigungskonferenz entladen hat, nur ein Abbild der gehässigen Verhandlungen im Parlament. «Es geht längst nicht mehr um die Rentenreform – es geht nur noch ums Gewinnen», sagt Regula Rytz, Parteipräsidentin der Grünen. Besonders für SVP und FDP ist die Situation frustrierend: Die bürgerlichen Parteien haben die nationalen Wahlen gewonnen, kommen im Nationalrat auf eine Mehrheit von 101 Stimmen – und verlieren doch in zentralen Vorlagen.
Dieser Frust entlädt sich direkt im Bundeshaus. Die Wandelhalle, sonst ein Ort voller harmonischer Plaudereien, ist in diesen Tagen kaum wiederzuerkennen. Giftig, laut, aggressiv. Jeder gegen jeden, alle gegen alle. «So einen Macker-Schwanzlängenvergleich habe ich hier noch nie erlebt», entfährt es einem Vertreter von Mitte-rechts – und meint damit jene Vertreter von SP, CVP, Grünen und BDP, die in der Einigungskonferenz nicht von den 70 Franken Zustupf abrücken wollten. «Wir waren immer transparent. Immer», entgegnet SP-Nationalrätin Silvia Schenker, «die 70 Franken waren bereits unser Kompromiss. Wir sind SVP und FDP dafür bei der Mehrwertsteuer entgegengekommen.»
Zu spät, zu wenig, zu viel. Inhaltlich lässt sich im Bundeshaus nicht mehr argumentieren. Auch der Kompromissvorschlag von Mitte-links – 0,6 statt 1,0 Prozentpunkte von der Mehrwertsteuer an die AHV – interessiert auf der bürgerlichen Seite niemanden mehr. Bei FDP und SVP ging man in der Einigungskonferenz sogar so weit, für den höheren Prozentbetrag zu stimmen, den sie während der Beratung bekämpft hatten – um nicht Hand für einen «faulen Kompromiss» zu bieten. Es geht jetzt nicht mehr um Kompromisse, es geht nur noch um Arithmetik: Wer hat genügend Stimmen, wer findet genügend Abweichler?
Ritter sucht Abweichler
«Die SVP ist der Schlüssel. Entweder du hast keinen. Oder du hast viele.» Es ist Markus Ritter, der diesen Satz sagt. Der CVP-Nationalrat und Bauernverbandspräsident ist aufseiten der Befürworter eine zentrale Figur im Schachern um das qualifizierte Mehr von 101 Stimmen. Auf den Freisinn will Ritter während seiner Stimmensuche nicht setzen, weil angenommen wird, dass die FDP-Fraktion beschliessen wird, die Abstimmung zur Rentenreform als strategisches Geschäft zu belassen – um damit den Druck auf mögliche Abweichler zu erhöhen.
Die SVP also. Bauern wie Andreas Aebi, Erich von Siebenthal, Hansjörg Walter. Doch darüber reden? Bewahre. Den Blick zu Boden, die Beine in die Hand. Nur Christian Imark getraut sich noch seine Meinung zu sagen – und erntet dafür eine Einzelbehandlung.
Hoffnungen ruhen auf Giezendanner
Die Hoffnungen von Mitte-links ruhen auf einem anderen SVPler, einem der alten. Am Mittwoch wurde Ulrich Giezendanner im Gespräch mit Toni Brunner beobachtet. «Wenn das scheitert, haben wir fünf Jahre nichts!», rief Giezendanner. Wenn einer wie er die Reform unterstützt, getrauen sich vielleicht auch die stillen SVP-Mitläufer.
Alles eine Frage des Drucks. Des richtigen Drucks an der richtigen Stelle. Bei den Grünliberalen hat das bereits funktioniert. Ob es das auch bei Imark und seinen abtrünnigen SVP-Kollegen tut – heute wissen wir es.
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